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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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werden. Selbstverständlich ist Armut nicht allzu ausgeprägt, schließlich wollen die ja nicht, dass die Menschen verhungern.
    Der andere Haken besteht darin, dass sie einem einen neuen, na ja, echt menschlichen Körper zuweisen und eine Geschichte, in der man eine bestimmte Rolle erfüllt. Während des Experiments ist man an die zugeteilte Rolle gebunden. Es gibt keine Netzverbindung, keine Back-ups und keine Korrekturmöglichkeiten: Wenn man sich verletzt, muss man warten, bis sich der eigene Körper selbst repariert. Schließlich hatten sie vor der Beschleunigung ja keine Assembler, stimmt’s? Aber immerhin haben dort Milliarden von Menschen gelebt, also kann’s so schlimm nicht sein. Man muss einfach vorsichtig sein und darauf achten, sich nicht zu verletzen.«
    »Aber worauf zielt das Experiment denn überhaupt ab?«, hake ich nach. Irgendetwas fehlt, ohne dass ich den Finger darauf legen kann.
    »Nun, es soll die Gesellschaft einer dunklen Epoche simulieren«, erklärt Linn. »Wir leben dort einfach, halten uns an die Regeln, und die Versuchsleiter beobachten uns dabei. Und wenn es abgeschlossen ist, ziehen wir ab. Was sonst musst du wissen?!«
    »Aber wie sehen diese Regeln aus?«, fragt Kay.
    »Woher soll ich das wissen?« Linn lächelt versonnen, während sie sich gegen Vhora lehnt und das Horn des Zwitterwesens streichelt, das jetzt in sanftem Rosa glüht und im Rhythmus ihrer Handbewegungen pulsiert. »Sie versuchen lediglich, einen Mikrokosmos der vielschichtigen Gesellschaft nachzustellen, die es vor unserer Zeit gab. Vieles aus unserer Geschichte stammt aus den dunklen Epochen, als die Beschleunigung sich gerade erst durchzusetzen begann, doch wir wissen nur wenig darüber. Vielleicht erhoffen sie sich von dem Versuch eine Erklärung dafür, wie wir dort hingelangt sind, wo wir heute stehen. Und zwar dadurch, dass sie untersuchen, wie eine Gesellschaft in unserer Vorzeit funktioniert hat. Kann aber auch sein, dass es um ganz andere Dinge geht. Um Dinge, die erklären sollen, wie Diktaturen entstehen konnten, die sich auf kognitive Prozesse stützten. Und wie es zu den ersten Kolonien kam.«
    »Aber diese Regeln …«
    »Ob du dich dran hältst, ist deine Sache«, erwidert Vhora. »Um die Probanden bei der Stange zu halten, gibt es ein Punktesystem. Wenn sie ihre Rolle erfüllen und sich nach dem richten, was über die Gesellschaften der dunklen Epochen bekannt ist, bekommen sie Pluspunkte. Verhalten sie sich völlig unpassend, zieht man ihnen Punkte ab. Und wenn das Experiment abgeschlossen ist, kann man die Punkte in eine Zusatzprämie umwandeln lassen. Das ist alles.«
    Ich starre das Zwitterwesen an. »Woher weißt du das?«
    »Ich hab das Protokoll gelesen.« Vhora ringt sich zu einem verschmitzten Grinsen durch. »Die wollen die Leute dazu bringen, zu kooperieren und die Regeln einzuhalten, ohne dass sie ausdrücklich Vorschriften machen. Schließlich verstoßen die Menschen in jeder Gesellschaft gegen Vorschriften, wie die auch lauten mögen, stimmt’s? Also arbeiten die Versuchsleiter mit einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung nach dem Prinzip von Bestrafung und Belohnung.«
    »Aber es ist doch nur ein Punktesystem«, wende ich ein.
    »Ja. Damit man merkt, ob man sich gut oder schlecht macht, nehme ich an.«
    »Schöner Trost«, murmelt Kay, die mich fest umarmt. Die Nachmittagssonne taucht die Waldlichtung in weiches gelbliches Licht. Zwar ist im Hintergrund das Summen und Rascheln von Insekten zu hören, doch ansonsten lässt uns die Natur in Ruhe. Linn lächelt uns erneut zu - was ihr Gesicht verblüffend übermütig wirken lässt - und streichelt eine bestimmte Stelle auf Vhoras Kopf. In dieser Geste liegt etwas unbewusst Erotisches, allerdings ist es keine Erotik, die mich persönlich anspricht. »Sollen wir gehen?«, frage ich Kay.
    »Ja, ich denke schon.« Ich helfe ihr auf, und sie zieht mich ihrerseits hoch.
    »Nett, dass ihr uns besucht habt«, säuselt Vhora, die sichtbar erschauert, als Linn sie wieder unten am Horn kitzelt. »Wollt ihr wirklich nicht bleiben?«
    »Danke für das Angebot, aber das geht nicht«, erwidert Kay vorsichtig. »In einer Kilosekunde hab ich Therapie. Vielleicht ein andermal.«
    »Na, dann tschüss«, sagt Linn. Als Kay und ich aufbrechen, macht sich Vhora mit einer Hand sofort an den Spitzen am Rückenteil von Linns Gewand zu schaffen.
    »Schade, dass du gleich Therapie hast«, sage ich, nachdem wir das erste Tor hinter uns haben und um die erste Ecke

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