Glashaus
Leuten am besten so, dass man allem, was sie von sich geben, höflich zustimmt und sie ansonsten ignoriert. Aus all diesen Gründen habe ich mich gar nicht so genau über das Projekt informiert.
»Nun ja, sie erzählen uns natürlich auch nicht alles«, räumt Linn ein. »Allerdings hab ich etwas gegraben. Der Geschichtsprofessor Yourdon interessiert sich besonders für ein Gebiet, in dem ich mich ein bisschen auskenne: für das erste postindustrielle Mittelalter, das heißt die Zeit von der Mitte des zwanzigsten bis zur Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts, falls ihr mit der Geschichte der alten Erde vertraut seid. Er arbeitet mit Oberst Dr. Boateng zusammen, der eigentlich Militärpsychologe ist. Boatengs Spezialgebiet ist die Erforschung vielschichtiger Gesellschaften - Gesellschaften, die nach Kasten oder Geschlechtern gespalten oder nach Kriterien gegliedert sind, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat. Diese Kriterien können durch Tradition, durch die Astrologie oder sonst was begründet sein. In jüngster Zeit hat der Oberst zahlreiche Artikel veröffentlicht. Darin behauptet er, in den meisten Gesellschaften vor den Zwischenmonarchien hätten die Menschen nur deshalb nicht selbstständig handeln können, weil ihnen ohne ihre Zustimmung soziale Beschränkungen auferlegt wurden. Ich nehme an, das Scholastium fördert Boatengs Forschung nur deswegen, weil sie auch Auswirkungen auf die Diplomatie haben könnte.«
An meinem linken Arm, den ich um Kays oberste Schultern geschlungen habe, spüre ich, dass sie leicht zittert. Sie schmiegt sich enger an mich, während ich meinerseits den Rücken gegen einen Baumstamm lehne. »Wie die Gesellschaften der Eisdämonen«, murmelt sie.
»Eisdämonen?«, fragt Vhora.
»Sie sind keine Techs - nein, eigentlich meine ich, dass sie immer noch dabei sind, ihre Technologien zu entwickeln. Sie haben die Phase der Beschleunigung noch nicht erreicht, verfügen noch nicht über empfindungsbegabte Maschinen, virtuelle oder sich selbst reproduzierende Hilfsmittel. Haben keine Füllhorne, keine Assembler und Tore, keine Möglichkeiten, ihre Körper zu rekonstruieren oder auch nur zu reparieren, es sei denn, sie schlucken giftige Pflanzenextrakte oder schneiden einander mit Stahlmessern auf.« Sie erschauert leicht. »Sie sind Gefangene der eigenen Körper. Sie werden alt und verfallen, und wenn einer von ihnen ein Glied verliert, können sie’s nicht ersetzen.« Kay ist sehr traurig über irgendetwas, und ich frage mich kurz, was diese Eisdämonen, mit denen sie zusammengelebt hat, ihr wohl bedeutet haben. Offenbar so viel, dass sie hierherkommen musste, um zu vergessen.
»Klingt ja grässlich«, sagt Linn. »Jedenfalls interessiert sich Oberst Dr. Boateng für all so was. Für Gemeinwesen, in denen die Menschen keine Kontrolle darüber haben, wer sie sind.«
»Wie soll das Experiment dann überhaupt funktionieren?«, frage ich verwirrt.
»Na ja, ich weiß auch nicht über alle Einzelheiten Bescheid«, wiegelt Linn ab. »Aber eins steht fest: Wenn man sich freiwillig dazu meldet, muss man alle möglichen Tests über sich ergehen lassen. Übrigens soll man nicht teilnehmen, wenn man enge Familienbindungen oder enge Freunde hat. Das Projekt ist ausschließlich für Singles gedacht.« Kay klammert sich kurz fester an mich. »Jedenfalls legen sie ein Back-up von einem an, und die Kopie wacht dann in der Innenwelt des Experiments auf.
Für das Projekt haben sie ein komplettes Gemeinwesen vorbereitet. Aus den Instruktionen geht hervor, dass den Probanden eine Fläche von mehr als hundert Millionen Kubikmetern zur Verfügung steht und es innen ein vollständig ausgebautes Netzwerk für die Kurzstreckenbeförderung gibt. Also geht es in dem Gemeinwesen keineswegs so unzivilisiert zu wie in irgendeiner unkultivierten planetaren Urlandschaft. Allerdings hat die Sache auch ein paar Haken. Beispielsweise gibt es dort keine frei zugänglichen Assembler. Man kann nicht einfach irgendein Objekt ordern, wenn einem danach ist. Wenn man Lebensmittel, Kleidung, Werkzeuge oder sonst was braucht, soll man spezielle Erzeugungsgeräte mit begrenzter Kapazität benutzen. Und die produzieren ausschließlich Dinge, auf die man im Rahmen des Experiments Anspruch hat. Die Gemeinschaft betreibt ein Geldsystem und sorgt für Arbeitsplätze, also muss man arbeiten und für das, was man konsumiert, bezahlen. Damit soll eine auf Mangel basierende Volkswirtschaft vor der Beschleunigungsphase simuliert
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