Glashaus
Problem zu lösen.« Sie tippt ungeduldig mit dem Zeh auf den Boden. »Oder haben die Therapeuten etwa nicht versucht, dir die Sache mit aller Macht schmackhaft zu machen?«
»Du meinst das Experiment?« Ich führe sie zurück ins Grüne Labyrinth und bestelle bei meiner Netzverbindung wieder ein Glühwürmchen, das uns den Weg weisen soll. »Eigentlich wollte ich ablehnen. Das Ganze klingt doch verrückt. Warum sollte ich zehn oder sogar fünfzig Megs in einer Gesellschaft leben wollen, die nichts anderes ist als ein Kuriositätenkabinett?«
»Denk darüber nach. Es ist eine geschlossene Gemeinschaft, die sich in einer vom Netzwerk abgekoppelten T-Tor-Matrix befindet. Niemand darf nach Beginn des Experiments hinein oder hinaus, bis die ganze Sache zu Ende gebracht ist. Noch wichtiger ist, dass es sich um das Datenprotokoll eines Experiments handelt, das nach dem Zufallsprinzip arbeitet und die Anonymität gewährleistet. Der für Experimente zuständige Ethikausschuss des Scholastiums wird die Unterlagen der Freiwilligen schützen. Und deshalb …«
Jetzt dämmert’s mir. »Falls tatsächlich irgendwelche Leute hinter mir her sind, können sie mich nicht erwischen, es sei denn, sie sind von Anfang an dabei! Und solange ich da drinnen stecke, bin ich für die Außenwelt unsichtbar.«
»Ich wusste doch, dass du’s kapierst.« Sie drückt meine Hand. »Komm, wir suchen deine Freundinnen. Weißt du, ob man die auch angesprochen hat?«
Wir finden Linn und Vhora auf einer Waldlichtung, wo sie einen endlos langen Sommernachmittag genießen. Es stellt sich heraus, dass man auch sie beide gefragt hat, ob sie an der Yourdon-Studie teilnehmen möchten. Linn hat einen menschlichen Frauenkörper gewählt und die Reha fast schon hinter sich. In jüngster Zeit hat sie ihr Interesse an der Geschichte der Mode entdeckt - das betrifft Kleidung, Kosmetik, Tätowierungen, Hautritzungen, Piercings und ähnliche Dinge -, deshalb findet sie das Konzept dieser Studie reizvoll. Im Gegensatz zu ihr hat sich Vhora so etwas wie einen niedlichen rosa-hellblauen Mechakörper im japanischem Kawaii-Stil zugelegt, der die Form eines Zentauren hat, sodass sie wie ein Zwitterwesen aus Mensch, Maschine und Mythos wirkt. Sie hat riesige schwarze Augen, entsprechende Wimpern, perfekte Brüste und eine scheckige Haut, die von Kevlar-Platten überzogen ist.
»Ich hatte eine Sitzung mit Dr. Mavrides«, bemerkt Linn zurückhaltend. Sie hat langes kastanienbraunes Haar, eine blasse Haut mit vielen Sommersprossen, grüne Augen, eine Stupsnase und Elfenohren. Ihr historisch wirkendes Gewand reicht vom Hals bis zum Boden. Das Grün des Stoffs ist genau auf ihre Augen abgestimmt. Dagegen ist Vhora völlig nackt. Linn lehnt sich gegen Vhoras Flanke. Einen Arm hat sie träge um deren Rücken geschlungen, um beiläufig an dem flötenförmigen Horn herumzuspielen, das Vhora mitten aus der Stirn ragt. »Das Projekt kommt mir ganz interessant vor.«
»Ist nicht mein Stil.« Vhora klingt belustigt, aber das ist bei ihr schwer zu deuten. »Es ist ein historisches Projekt, dazu noch ein vorsintflutliches. Tut mir leid, aber das strikt Menschliche mache ich nicht mehr mit. Zwei Lebensspannen haben mir gereicht.«
»Oh, Vhora«, seufzt Linn und klingt genervt. Als sie mit der Fingerspitze um die Hornbasis herumfährt, spannt sich der Mechakörper leicht. »Willst du nicht …«
»Ich weiß nicht genau, um welche historische Phase es überhaupt geht«, werfe ich vorsichtig ein. Ehrlich gesagt, habe ich die Einzelheiten des Angebots, das Piccolo-47 mir schickte, bewusst ignoriert - bis Kay mich darauf hinwies, welche Vorteile es für mich haben könnte, einige Jahre in ein geschlossenes Gemeinwesen abzutauchen. Eigentlich habe ich nämlich überhaupt kein Interesse daran, in einer Höhle zu leben und mit einem Speer Mammuts zu jagen oder was Yourdon und seine Kollegen sonst mit uns vorhaben mögen. Ich mag es nicht, wenn man mich für ein leicht zu manipulierendes Weichei hält. Und die Haltung von Piccolo-47 ist bestenfalls als gönnerhaft zu bezeichnen. Wohlgemerkt zählt Piccolo-47 zu der Sorte von selbstzufriedenen und von angeblicher Selbsterkenntnis besessenen Berufspsychologen, die jeden Hinweis darauf, dass sie in ihrem Verhalten den Patienten gegenüber Verachtung an den Tag legen, schlicht als Projektion abtun. Nie kämen sie auf die Idee, Mängel in der sozialen Kommunikation bei sich selbst zu suchen. Meiner Erfahrung nach verfährt man mit solchen
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