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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Schlupffalten. Die Augen wirken merkwürdig rund und groß, fast wie bei Kawaii-Figuren. Das braune Haar schmiegt sich im Moment an meine Schultern. Meine Schultern? Warum habe ich so langes Haar? Meine Finger- und Fußnägel dagegen sind kurz. Ich runzle die Stirn. Das ist ja seltsam widersprüchlich. Als ich meine Arme über den Kopf strecke, bekomme ich einen fürchterlichen Schock. Ich bin schwach - am Oberkörper habe ich kaum nennenswerte Muskeln. Wahrscheinlich könnte ich einen Säbel nicht mal eine halbe Kilosekunde auf Armlänge wegstrecken, ohne ihn fallen zu lassen.
    Insgesamt gesehen, bin ich also klein, schwach und wehrlos, aber recht hübsch, falls man zufällig auf altmodischen Körperbau steht. »Wie beruhigend.« Nachdem ich meinem Spiegelbild die Zähne gezeigt habe, kehre ich ins Schlafzimmer zurück, setze mich und blicke auf den Slate mit dem Text SOFORT LESEN!
    »Sag, was du zu sagen hast!«, fordere ich ihn auf. Sofort morphen Buchstaben über das Display, die sich ständig zu neuen Wörtern ordnen.
    Liebe Teilnehmerin, vielen Dank dafür, dass Sie sich bereit erklärt haben, bei dem Yourdon-Fiore-Hanta-Experiment (kurz: YFH-Experiment) mitzumachen. Bei diesem Projekt geht es um die Simulation eines historischen Gemeinwesens. (Falls Sie nicht mehr wissen, dass Sie der Teilnahme zugestimmt haben, rufen Sie HIER die Einverständniserklärung auf, die Sie nach Ihrem letzten Back-up unterzeichnet haben.) Wir hoffen, dass Ihnen der Aufenthalt in diesem Gemeinwesen zusagt, und haben eine Einführung für Sie vorbereitet. Dr. Fiore wird die nächste Einweisung in 1294 Sekunden vornehmen. Bitte unterstützen Sie uns dabei, den für das Experiment notwendigen Rahmen zu sichern, indem Sie bei der Einweisung historisch korrekte Kleidung tragen. Die dafür vorgesehenen Sachen finden Sie in einem Karton unter Ihrem Stuhl.
    Nach der Einweisung möchten wir Sie zu einem Empfang einladen, bei dem Wein und Käse gereicht werden. Dabei haben Sie Gelegenheit, Ihre engsten Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen, Neuankömmlinge wie Sie.
    Ungläubig zwinkere ich und lese den Text nochmals durch, wobei ich verzweifelt nach alternativen Deutungsmöglichkeiten suche. Ich habe doch gar keine Erklärung unterzeichnet! Oder doch? Sieht so aus, als hätte ich’s getan. Entweder das - oder ein Hacker war am Werk. Allerdings spricht mehr dafür, dass ich tatsächlich unterschrieben habe. Als ich auf den Link drücke, taucht die Einverständniserklärung in schwarz-weiß-roter Schrift auf, und der sechzehnstellige Zahlencode funktioniert, als ich ihn per Fingerabdruck in meine Netzverbindung eingebe. Ich habe tatsächlich einen Vertrag unterschrieben, und der besagt, dass ich mich verpflichte, unter einer angenommenen Identität namens Reeve in dem YFH-Gemeinwesen zu leben. Und zwar für die nächsten … hundert Megasekunden. Drei Jahre? Während dieser Zeit verfüge ich aufgrund der einvernehmlichen Abmachung nur über eingeschränkte Bürgerrechte. Nicht tangiert sind die Grundrechte, mit denen ich als mit Intelligenz begabtes Wesen ausgestattet bin. (Also dürfen sie mich nicht foltern oder mir eine Gehirnwäsche verpassen.) Von meiner Selbstverpflichtung kann ich ohne Zustimmung der Versuchsleiter nicht entbunden werden.
    Hin- und hergerissen, ertappe ich mich beim Hyperventilieren. Zum einen habe ich weiche Knie, so erleichtert bin ich darüber, dass ich nicht Opfer eines Identitätsraubs geworden bin. Zum anderen finde ich es ungeheuerlich, was ich da unterschrieben habe. Einseitig haben sie das Recht, mich rauszuschmeißen. (Nun ja, ist auch nicht weiter schlimm. Dann muss ich sie nur richtig vor den Kopf stoßen, wenn ich raus will.) Außerdem dürfen sie mir vorschreiben, in welchem Körper ich zu leben habe! Eine unheimliche Vorstellung. Darüber hinaus finde ich unter den drakonischen Maßnahmen, denen ich zugestimmt habe, auch die Einverständniserklärung, jede meiner Handlungen überwachen zu lassen. Allgegenwärtige Kontrolle! Ich habe gerade in einem Themen-Hotel eingecheckt, das wie ein mittelalterliches Gruselkabinett gestaltet ist! Welcher Teufel mag mich da geritten haben, so etwas zu …
    Oh. Im Kleingedruckten ist ein Paragraf mit der Überschrift Teilnahmevergütungen versteckt.
    Aha.
    Als Erstes steht da, dass das Scholastium für die Versuchsleiter die Bürgschaft bei allen potenziellen Schäden übernimmt und alle rechtlichen Ansprüche der Versuchsteilnehmer absichert. Also kann ich die

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