Glashaus
sommersprossiger Haut und kupferrotem Haar, die Linn ein bisschen ähnlich sieht. Sie trägt eine cremefarbene Bluse, eine dunkelgraue Jacke und einen dazu passenden Rock. Mir leuchtet dieser Stil in keiner Weise ein, denn die vertikalen Proportionen stimmen nicht. Ehrlich gesagt, wirkt diese Kleidung etwas bizarr. Allerdings ist sie auch nicht so viel anders als diejenige, die man mir verpasst hat, also ist sie in historischer Hinsicht vermutlich korrekt. Hat sich unser Schönheitssinn denn dermaßen verändert?, frage ich mich.
Der Mensch am Rednerpult beginnt mit seinem Vortrag. »Ich bin Major Dr. Fiore und habe das Design dieses experimentellen Protokolls gemeinsam mit Oberst Professor Yourdon entworfen. An dieser Stelle möchte ich damit beginnen, Ihnen zu erläutern, was wir erreichen möchten, wenn ich auch - ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür - nichts berühren werde, was Ihr Verhalten in diesem experimentellen Gemeinwesen irgendwie beeinflussen könnte.« Er lächelt, als hätte er gerade einen nur Eingeweihten verständlichen Witz gerissen.
»Nun zur ersten dunklen Epoche.« Wie immer, wenn er etwas sagen will, das er selbst für wichtig hält, drückt er die Brust heraus und holt tief Luft. »Die erste dunkle Epoche erstreckte sich über rund drei Gigasekunden. Im Vergleich dazu dauerten die Zensurkriege sieben Gigasekunden. Doch um die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken, möchte ich anmerken, dass die erste dunkle Epoche die gesamte erste Hälfte der Beschleunigungsphase umfasste - das sogenannte späte zwanzigste und frühe einundzwanzigste Jahrhundert der alten Zeitrechnung. Wenn wir uns die historischen Aufzeichnungen von der vortechnologischen Ära bis zur ersten dunklen Epoche vornehmen, stellen wir fest, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die wie mit technischen Hilfsmitteln ausgestattete Affen lebten - wie sehr schlaue Primaten, die zwar über komplexe mechanische Werkzeuge verfügten, im Grunde jedoch kaum anders lebten als die ersten Vertreter der Spezies Mensch. Betrachten wir anschließend die Menschen, die aus der ersten dunklen Epoche hervorgegangen sind, erkennen wir, dass diese Leute nicht viel anders waren und lebten als wir in der Neuzeit, im Zeitalter der empfindungsbegabten Maschinen , wie es ein Schamane der dunklen Epoche genannt hat. In den historischen Aufzeichnungen gibt es eine auffällige Lücke: Von der kohlehaltigen Tinte, mit der auf Material geschrieben wurde, das man aus Holzzellstoff gewann, gelangen wir übergangslos zu Speicherdiamanten, die uns mittels früher, aber entschlüsselbarer Versionen der Intentionalitätsprotokolle zugänglich sind. Irgendwo in dieser Lücke ist der Ursprung posthumaner Entwicklungen verborgen.«
Kaum hörbar, murmelt der große Kerl irgendetwas. Ich brauche einen Moment, bis ich es verstehe: Was für ein aufgeblasener Esel. Ich unterdrücke ein amüsiertes Kichern, denn das hier ist keineswegs zum Lachen. Dieser aufgeblasene Esel hält für das kommende Zehntel einer Gigasekunde meine Zukunft in den Händen. Deshalb möchte ich hören, was er als Nächstes zu sagen hat.
»Wir wissen, wie es zur dunklen Epoche kam«, fährt Fiore fort. »Unsere Vorfahren ließen es zu, dass sich ihre Rechner- und Speicherkapazitäten unkontrolliert vervielfachten, und neigten dazu, die alten Technologien einfach über Bord zu werfen, anstatt sie zu virtualisieren. Aus rein kommerziellen Gründen schufen einige ihrer größten Informationseinheiten absichtlich inkompatible Formatvorlagen und verschlossen darin riesige Mengen nützlicher Informationen. Sobald Neuentwicklungen frühere Technologien ersetzten, waren diese älteren Daten nicht mehr zugänglich.
Insbesondere betraf das in der zweiten Hälfte der dunklen Epoche die Aufzeichnungen privater und solcher Aktivitäten, die sich innerhalb eines Haushalts abspielten. Über die frühere Zeit besitzen wir jede Menge Unterlagen, etwa eine Unzahl von Filmen, aufgenommen von Amateuren, begeisterten Hobbyfilmern, die sogenannte home videos drehten. Damals benutzten sie ein Ding namens Kamera, um Bilder einzufangen und auf einem fotochemischen Medium zu speichern. Dieses Material ließ sich tatsächlich mit dem bloßen Auge entschlüsseln. Doch nach dem ersten Drittel der dunklen Epoche gingen die Menschen dazu über, zum Speichern Magnetband einzusetzen, und das zerfällt schnell; später waren es digitale Speicher, was noch schlimmer war, denn dabei verschlüsselten sie alles ohne
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