Glashaus
überaus scharfes Küchenmesser verstaut sind. Das Messer ist natürlich eine völlig unzulängliche Waffe, besonders wenn ich an den Zustand meiner Armmuskeln denke. (Die fühlen sich an, als hätte ich sie mit dem Hammer traktiert.) Aber es ist immer noch das Beste, das ich für den Moment auftreiben konnte. Falls ich Glück habe, geht es den potenziellen Attentätern auch nicht anders, und mir wird Zeit bleiben, mich auf ihren Angriff vorzubereiten, ehe sie zuschlagen können.
Wichtigster Punkt auf der Checkliste eines gut vorbereiteten Flüchtlings: Kenne die Fluchtwege in- und auswendig!
Anstatt ein Taxi zu rufen, gehe ich zu Fuß die Straße entlang und spähe sie von vorne bis hinten aus. Das Wohnviertel wirkt friedlich, wenn auch ein bisschen sonderbar. Auf beiden Seiten wachsen riesige, belaubte Pflanzen; die Vegetation verwildert zunehmend und gerät an den Grenzen des Gartens, der zu unserem Haus gehört, völlig außer Kontrolle. Irgendwelche wirbellosen Tiere, die sich versteckt halten, krächzen und knirschen so, als wären es Maschinen mit Betriebsstörungen. Ich versuche mich daran zu erinnern, welchen Weg zur Innenstadt das Taxi gestern genommen hat. Diese Richtung. Also wende ich mich nach links und gehe an der Straße entlang, jederzeit bereit, aus dem Weg zu springen, falls plötzlich ein Taxi auftaucht.
An der Straße stehen einige Häuser, die etwa so groß sind wie unseres. Es sind nebeneinander aufgereihte Schachteln, die nach vorne hin gerahmte, verglaste Öffnungen haben und oben seltsam geneigte Flächen. Zwar sind sie in unterschiedlichen Farben gestrichen, aber sie wirken trotzdem düster und ausgeblichen. Mir kommen sie wie abgestorbene Hüllen oder Panzer riesiger Insekten vor. In keinem der Häuser gibt es Anzeichen von Leben - vermutlich sind sie nur Teil der Kulisse.
Ich habe keine Ahnung, wo Cass wohnt, und wünschte, ich wüsste es, denn dann könnte ich sie besuchen. Soweit ich weiß, wohnt sie gleich nebenan, doch ich bin mir nicht sicher, und Adressenauskünfte zählen zu den vielen von Netzwerken vermittelten Diensten, die es hier nicht gibt. In einer Sache hat Sam recht: Unsere Vorfahren waren unglaublich auf den Schutz ihrer häuslichen Sphäre bedacht. Wenn sie hier die Ordnungskräfte schon rufen, um Menschen verhaften zu lassen, die in der Öffentlichkeit falsch angezogen sind, was würden sie dann unternehmen, wenn ich einfach in ein fremdes Haus hineinspazierte?
Zweihundert Meter weiter steigt die Straße an und setzt sich auf diesem Niveau fort, bis sie zu einer Senke abfällt und schließlich in einen dunklen Tunnel mündet, der durch die Hügel hindurchführt. Als ich nach rechts und links blicke, stelle ich fest, dass mit den Bäumen irgendwas nicht stimmt. Hab ich euch erwischt!, denke ich. Das hier muss wohl der Rand eines Habitatmoduls sein. Ich kann mir kaum vorstellen, was sich unmittelbar unter meinen Füßen befindet - eine komplexe Maschinerie innerhalb eines Speicherdiamanten, ein kilometerlanger Zylinder, der sich im Vakuum dreht und in der eisigen Dunkelheit kreist. Über viele Millionen von Kilometern nur Leere; irgendwann ein Brauner Zwerg, kaum größer als ein riesiger Gasplanet, gefolgt von unzähligen weiteren Kilometern, bis man das nächste Sternsystem erreicht. Diese Dimensionen sind der Feind Nummer eins.
Als ich in den Tunnel hineingehe, sehe ich eine Biegung vor mir, hinter der es sehr dunkel wird. Das beunruhigt mich, denn als ich hinten im Taxi saß, habe ich nichts dergleichen bemerkt, obwohl mir ansonsten doch alles Merkwürdige aufgefallen ist. Aber wenn es hier drinnen ein T-Tor gibt … Nun ja, es gibt nur eine einzige Möglichkeit, das herauszufinden. Während es dunkler wird, taste ich mich mit der rechten Hand an der Tunnelwand entlang, die jetzt eine Kurve beschreibt. Langsam gehe ich weiter, bis der Tunnel nach vielleicht fünfzig Metern eine weitere Biegung in die andere Richtung macht. Nach der Kurve dringt Licht vom Ende des Tunnels herein, und ich gelange zu einer Straße, rechts und links von Gebäuden gesäumt, die sich in Form und Größe eindeutig von den Häusern in meiner Nachbarschaft unterscheiden. Vor mir taucht ein Schild auf: WILLKOMMEN IM ORTSKERN. (Ein Ort ist eine kleine Ansiedlung; und dessen innerer Kern ist in der Regel die Geschäftszone. Zumindest nehme ich es an).
Wie es sich für eine gute Bürgerin gehört, habe ich meine Hausaufgaben gemacht und mich vorbereitet. Es gibt mehrere Geschäfte, in denen
Weitere Kostenlose Bücher