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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Plötzlich fühle ich mich ohnmächtig - ein ekelhaftes Gefühl! Eigentlich müsste ich es doch schaffen, einfach zum Haus dieses Widerlings hinüberzugehen, ihm die Tür einzutreten und ihn kalten Stahl schmecken zu lassen. Oder - falls das unmöglich ist - einen fiesen Plan auszuhecken. So einen, durch den ich einerseits das Opfer in Sicherheit bringe und ihn andererseits fertigmache. Zum Beispiel, indem ich einen Sprengsatz in sein Badezimmer und Juckpulver in sein Bett schmuggle. Doch meine Gedanken drehen sich bloß im Kreis. Ich reagiere rein emotional, mache meinen Gefühlen Luft und entlade sie auf Sam. Ich kann nicht mehr auf das Netz von Ressourcen und Fähigkeiten zurückgreifen, über das ich normalerweise verfüge, und lasse zu, dass die Umwelt meine Reaktionen bestimmt. Und in dieser Umwelt stellt das bizarre, von Geschlechtszugehörigkeit bestimmte Rollenspiel einen unberechenbaren Faktor dar, deshalb … Ich schüttle den Kopf.
    »Allerdings können wir nicht zulassen, dass jemand meint, man könne prima punkten, wenn man Gruppenangehörigen etwas antut oder sie einsperrt«, sagt Sam nachdenklich. »Hast du eine Idee, wie wir ihm das klarmachen können?«
    Ich denke kurz nach. »Ruf ihn an«, sage ich, noch ehe die Idee in meinem Kopf konkrete Gestalt angenommen hat. »Ruf ihn an und … Ja.« Ich blicke auf den Garten hinaus. »Sag ihm, dass wir uns übermorgen mit ihm und Cass in der Kirche treffen. Es ist gar nicht nötig, ihm unangenehm zu kommen. Laut Instruktionen sollen wir uns schön anziehen und in der Kirche gut aussehen, wie es hier Sitte ist. Sag ihm, wir - unsere ganze Schar - könnte Punkte verlieren, wenn Cass keinen guten Eindruck macht.« Ich drehe mich zu Sam um. »Glaubst du, er kapiert den Wink mit dem Zaunpfahl?«
    »Wenn er nicht völlig dumm ist.« Sam nickt und steht auf. »Ich ruf ihn sofort an.« Er hält kurz inne. »Reeve?«
    »Ja?«
    »Du darfst nicht … Du machst mich ganz nervös, wenn du so grinst.«
    »Tut mir leid.« Ich überlege kurz. »Sam?«
    »Ja?«
    Ich schweige einen Moment, weil ich mir nicht sicher bin, wie viel ich ihm ohne Risiko erzählen kann. Aber dann tue ich es innerlich als überflüssig ab und platze einfach damit heraus, denn ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Sam ein kaltblütiger Mörder im Dienst der unbekannten Feinde ist, die mein früheres Selbst sich gemacht hat. »Ich kenne Cass. Aus der Zeit vor dem Experiment, ehe wir uns … äh … freiwillig dafür gemeldet haben. Wenn dieser Scheißkerl ihr was antut, werde ich … Na ja, im Augenblick kann ich ihm die Zähne nicht so einschlagen, dass er zukünftig auf dem Zahnfleisch kriechen muss, aber es wird mir schon was ähnlich Schlimmes einfallen. Und, weißt du was, Sam?«
    »Ja?«
    »Ich kann sehr einfallsreich sein, wenn man nicht umhinkann, Gewalt anzuwenden.«

5
    die kirche
     
     
     
    SAM GREIFT UNTEN IN DER DIELE nach dem Telefon und bittet die Netzzentrale, ihn mit dem Haushalt von Mick zu verbinden, während ich oben auf der Treppe herumhänge und lausche. Es klingt so, als gäbe Sam sich Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Nach wenigen Zentisekunden knallt er den Hörer auf und stapft zurück ins Wohnzimmer. Den Rest des Abends gehe ich ihm, so weit möglich, aus dem Weg und steigere mich stattdessen in eine abgrundtiefe Depression hinein, weil ich fürchte, dass ich Cass’ Situation noch verschlimmert habe, indem ich Sam ins Spiel gebracht habe.
    Punkte. Kollektive Haftbarkeit. Stabile Partnerschaften. Der Druck der Gruppe. In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Nicht, dass mir die Vorstellung vom täglichen Leben, das nach gewissen Regeln verläuft - zumindest in Friedenszeiten -, völlig fremd wäre. Aber es kommt mir in gewisser Weise ungehörig vor, dass sie es hier so deutlich demonstrieren. Der innere Zusammenhalt von Gesellschaften basiert doch auf stillschweigendem Verständnis, einem Nicken hier, einem Hinweis dort, und nur in Ausnahmefällen auf Nachforschungen in offiziellen Datenbanken. Ich bin daran gewöhnt, durch eigene Erfahrung herauszufinden, wie die Dinge laufen. Und es hat mir einen gründlichen Schock versetzt, so Hals über Kopf mit einem bis ins letzte Detail festgelegten Regelsatz fürs tägliche Leben konfrontiert zu werden.
    Wahrscheinlich hätte ich die Situation besser im Griff, wäre ich nicht in einem, offen gesagt, völlig unpassenden Körper gefangen. Normalerweise bin ich mir meiner eigenen Größe oder Stärke nicht

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