Glashaus
ich kenne, darunter auch das von Jen. Doch während wir draußen warten, stelle ich fest, dass die meisten Leute in der Menschenmenge mir unbekannt sind. Aus Angst, Sam zu verlieren, halte ich mich an seinem Arm fest.
Innen besteht die Kirche aus einem einzigen Raum, der vorne eine Empore hat und dahinter Bankreihen aus toten Bäumen. Auf der Empore steht ein Altar, auf dem eine lange nackte Klinge neben einem großen goldenen Kelch liegt. Hintereinander marschieren wir hinein und nehmen Platz. Während leise Musik ertönt, zieht von hinten her eine kleine Prozession den Gang hinauf. Es sind drei Männer, die alt, aber noch nicht gebrechlich wirken, gewandet in auffällige Roben aus Metallfäden. Sie steigen die Empore hinauf und nehmen ihre Plätze ein. Gleich darauf beginnt der vorne rechts zu sprechen, und ich merke zu meiner Bestürzung, dass es der Major Dr. Fiore ist.
»Liebe Gemeindemitglieder, wir sind heute hier versammelt, um jener zu gedenken, die vor uns von dieser Welt gegangen sind - erstarrte, in Stein gemeißelte Gesichter, die Gesichter vieler Generationen.« Als er innehält, wiederholt jeder ringsum seine letzten Worte. Es ist ein leises, gemurmeltes Echo, das sich ewig hinzuziehen scheint. Mit wachsendem Tempo und in salbungsvollem Ton setzt Fiore seinen Sermon fort. Alle ein, zwei Sätze hält er inne, damit die Gemeinde seine Worte wiederholt. Ich hoffe , dass es nur Geschwall ist, denn manchmal sind die Worte nicht nur rätselhaft, sondern enthalten auch vage Drohungen, erinnern daran, dass wir nach unserem Tod gerichtet, für unsere Sünden bestraft und für unseren Gehorsam belohnt werden. Ich werfe einen Blick zur Seite, merke aber schnell, dass alle anderen zu ihm nach vorn sehen. Ich spreche die Worte lautlos nach, fühle mich dabei aber zutiefst unwohl. Hingegen scheinen sich andere regelrecht in die Sache hineinzusteigern und brüllen die Antwortstrophen laut heraus.
Als Nächstes stimmt ein Zombie, der in einer Nische sitzt, auf einem primitiven Musikapparat eine schwülstige Melodie an, und Fiore fordert uns auf, die vor uns liegenden Bücher (aus Papier!) auf einer bestimmten Seite aufzuschlagen. Die Leute beginnen, den dort abgedruckten Text zu singen und rhythmisch zu klatschen, und auch das ergibt keinen Sinn. Wiederholt taucht der Name »Christ« - eine Abkürzung für Christian ? - auf, aber nicht in irgendeinem Zusammenhang, den ich verstehe. Und die Botschaft in diesem gemeinsamen Gesang ist eindeutig düster. Irgendwie geht es ständig nur um Unterwerfung, Konformität und Feedback-Schleifen der Belohnung. Es kommt mir so vor, als wäre tief in meinem Innern irgendein Reflex verwurzelt, der es mir verwehrt, Propaganda unkritisch in mir aufzunehmen. Schließlich lese ich nur noch in dem Buch und runzle die Stirn.
Nach etwa einer halben Stunde gibt Fiore dem Zombie das Zeichen, mit dem Spielen aufzuhören. »Meine teuren, geliebten Kinder«, sagt er in öligem, vertraulichem Ton, beugt sich auf der Kanzel nach vorn und blickt forschend in unsere Gesichter. »Meine teuren , geliebten Kinder.« (Ich ergänze seine Ansprache geistig mit einem eigenen sarkastischen Kommentar: So teuer, dass du dir diese Kinder eigentlich gar nicht leisten kannst. ) »Ich möchte, dass ihr heute unsere jüngsten Mitglieder, die Schar Sechs , willkommen heißt. Wir sind eine Kirche der Liebe, der es obliegt« - er gebraucht tatsächlich das Wort obliegt ! -, »sie an unsere Brust zu drücken und sie herzlich in unsere Familie aufzunehmen.« Er lächelt ekstatisch und klammert sich so an der Kanzel fest, als lutsche ihm ein darin verborgener Zombie wie ein Lustknabe den Schwanz. »Bitte begrüßt unsere neuen Mitglieder Chris, El, Sam, Fer und Mick und ihre Gattinnen Jen, Angel, Reeve, Alice und Cass.«
Jeder ringsum bis auf Sam, der genauso verwirrt aussieht, wie ich mich fühle, beginnt plötzlich, die Hände hochzunehmen und zusammenzuschlagen. Ich nehme an, es ist irgendein - verblüffend lautes - Begrüßungsritual. Sam sucht meinen Blick und fällt vorsichtig in das Klatschen mit ein, doch gleich darauf streckt Fiore eine Hand hoch, und alle hören wieder damit auf.
»Meine Kinder«, voller Zuneigung blickt er auf uns herab, »unsere neuen Brüder und Schwestern sind erst seit drei Tagen hier. In dieser Zeit mussten sie vieles lernen, in Augenschein nehmen und anpacken, und manche von ihnen haben dabei auch Fehler gemacht. Aber irren ist menschlich, genau wie das Verzeihen. An uns ist es,
Weitere Kostenlose Bücher