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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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zu entschuldigen und zu vergeben. Beispielsweise müssen wir Mrs Alice Sheldon aus der Schar Sechs verzeihen, dass sie Probleme mit den sanitären Einrichtungen hatte. Und Mrs Reeve Brown aus Gruppe sechs nachsehen, dass sie sich neulich auf unglückselige Weise nackt in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Oder …«
    Seine weitere Rede geht in Gelächter unter. Als ich mich umsehe, merke ich, dass die Menschen mich plötzlich auslachen und mit dem Finger auf mich weisen. Ich spüre einen Anflug von Verlegenheit, gepaart mit Zorn. Wie kann er es wagen , mich derart bloßzustellen? Aber es ist gleichzeitig beängstigend. Es müssen an die fünfzig Menschen hier sein, und manche starren so zu mir herüber, als wollten sie mich mit Blicken ausziehen. Wäre ich mein wahres Selbst, befände ich mich jetzt in meinem eigenen, selbst gewählten Körper, würde ich ihn unverzüglich zur Rede stellen - aber ich bin es nicht. Bis tief in meine schmerzende Magengrube hinein spüre ich, dass diese Leute niemals vergessen werden, wie er mich bloßgestellt und damit zum Angriffsziel gemacht hat. Schließlich funktioniert der Druck der Gruppe genau auf diese Weise, oder? Und nur darum geht es hier. Die Versuchsleiter können nicht erwarten, dass sie in gerade mal drei Jahren eine funktionierende Gesellschaft der dunklen Epoche schaffen können, wenn sie einen bunten Haufen von Rekonvaleszenten, die in menschlichen Körpern stecken, in einem Gemeinwesen aussetzen und sie dort frei herumziehen lassen. Sie brauchen einen sozialen Mechanismus, der uns dazu bringt, voneinander Konformität zu verlangen. Und die beste Möglichkeit, Konformität durchzusetzen, besteht darin, dafür zu sorgen, dass wir selbst die Abweichler in den eigenen Reihen bestrafen …
    »Und wir verzeihen auch Cass für ihre Neigung, zu verschlafen. So wie heute, wo sie offenbar vergessen hat, zur Kirche zu kommen.« Jetzt blicken sie nicht mehr auf mich, sondern tuscheln miteinander. Unterschwellig macht sich heftige Missbilligung bemerkbar. Ich tausche einen Blick mit Sam aus, der erschrocken wirkt. Als er die Hand zur Seite streckt, greife ich wie eine Ertrinkende danach.
    »Ich fordere euch alle auf, Mick, ihrem Ehemann, der diese träge Frau ernähren muss, eure Anteilnahme zu erweisen und Cass weiterzuhelfen, wenn ihr sie das nächste Mal trefft.« Jetzt kann ich sehen, wo Mick sitzt, denn alle blicken zu ihm hinüber. Er ist klein gewachsen, drahtig, hat eine große, scharfe Nase und dunkle, trübsinnige Augen. Er wirkt wütend und trotzig, und dazu hat er auch guten Grund. Der Abzug von Punkten hat mich so verletzt und mir solche Angst eingejagt, dass mir die Knie weich geworden sind. Und jetzt erwischt es auch ihn, stellvertretend für seine Frau, die es nicht geschafft hat, morgens rechtzeitig aufzustehen...
    Nicht geschafft hat, morgens aufzustehen? Am liebsten würde ich Fiore anschreien und rufen: Das ist doch nur eine Ausrede, du Schwachkopf, eine Entschuldigung dafür, dass die Öffentlichkeit Cass nicht zu sehen bekommt!
    Fiore fährt fort, weitere Leute und andere Scharen durchzuhecheln, aber all das geht im Augenblick an mir vorbei. Später meldet sich meine Netzverbindung und erinnert mich daran, dass ich darüber abstimmen muss, welchen Scharen Punkte gegeben oder abgezogen werden sollen. Bei jedem Namen ist eine ganze Liste von Verstößen und Verdiensten aufgeführt, doch ich enthalte mich jeder Abstimmung. Schließlich sprechen sich die fünf Scharen, die schon länger hier sind, einstimmig dafür aus, unserer Gruppe Punkte abzuziehen. Wir alle verlieren zwei Punkte, wie das dumpfe Läuten einer eisernen Glocke anzeigt, die ganz hinten in der Kirche in einem Bogengang hängt. Danach bedeutet Fiore dem Zombie, die »Orgel« anzustimmen, und macht den Vorsänger für ein weiteres unsinniges Lied. Das ist das Ende des Gottesdienstes. Aber ich kann jetzt nicht einfach weglaufen und irgendwo untertauchen, denn nach diesem Ketzergericht ist ein Empfang zu Ehren der neuen Schar vorgesehen. Während die anderen ihren feinen Spott über uns ergießen, dürfen wir sauer dazu lächeln und unter Magnolienbäumen in Kanapees beißen.
    In dem Ziergarten hinter der Kirche, den man »Friedhof« nennt, sind Tische aufgebaut und mit weißem Leinen und Weingläsern eingedeckt. Wir werden nach draußen geleitet und dort unserem Schicksal überlassen. Taxis fahren sonntags während der Gottesdienste nicht. Automatisch habe ich mich so nahe wie möglich an die

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