Glashaus
auf.
Nichts wirklich Aufregendes. Bloß die üblichen Spekulationen über die zwei Mal im Jahr stattfindende Autonomendemo. Was es in diesem Herbst allerdings aufregender als gewöhnlich machte, war ein Richter, der in letzter Instanz gleichzeitig zur dichtesten Konzentration von Linksautonomen im Land, eine NPD-Demo gestattet hatte.
Boyle hatte den Männern des Siebten Reviers dabei zugesehen, wie sie im Gemeinschaftsraum das Zeitungsfoto des Richters als Zielscheibe für ihre Dartpfeile benutzt hatten.
Er legte die Zeitung weg. Er hatte nicht viel vor an diesem Morgen. Später würde er den Schreibtisch in der Pressestelle ausräumen und sobald das erledigt war, gegen Abend vielleicht einen Abstecher zu Sascha machen.
Boyle hätte ihr Verhältnis nie als Beziehung bezeichnet. Sascha und Boyle waren einfach zwei Erwachsene, die zufällig eines Nachts feststellten, dass sie im Bett gut zueinander passten. Boyle wusste kaum etwas über sie. Nur, dass was er in ihrer Akte gelesen hatte, bevor er sie das zweite oder dritte Mal getroffen hatte. Sascha war Russin und vor ein paar Jahren als Aussiedlerin nach Deutschland gekommen. Wahrscheinlich waren ihre Papiere genauso gefälscht gewesen wie die der meisten, die in den letzten Jahren gekommen waren.
Sascha bot eine Menge Vorteile: Sie hatte noch nie Ansprüche an Boyle gestellt, zahlte alle ihre Rechnungen selbst, hatte etwas im Kopf und sah außerdem verdammt gut aus.
Boyle warf den CD-Player an. Boyle mochte Punk und Ska. Je lauter und härter umso besser.
Gegen Zwei hatte er die paar persönlichen Sachen, die sich im Schreibtisch der Pressestelle angesammelt hatten, in einen Umzugskarton geworfen, den er nun über den langen hell getünchten Flur des Präsidiums ein Stockwerk höher zur Mordkommission trug.
Keine Wehmut beim Abschied. Boyle würde dem Dienst in der Pressestelle bestimmt nicht nachweinen. Keine Talkshows mehr. Keine Lächeltermine. Keine Lügen über all die unfehlbaren und gerechtigkeitsfanatischen Bullen, die alles taten den Bewohnern dieser Stadt die Sicherheit zu vermitteln, die sie für ihre Steuergroschen angeblich auch verdienten.
Die Plakataktion und die Talkshows hatten ihn zum bekanntesten Bullen der Stadt gemacht. Es hatte sogar Leute gegeben, die ihn um Autogramme gebeten hatten.
Das Büro von Mord war leer.
Boyle sah sich vergeblich nach einem freien Schreibtisch um und stellte den Umzugskarton einfach vor einem der blauen Metallaktenschränke ab.
Ein Blick auf die Uhr: Genügend Zeit zu Hause zu duschen, bevor er zu Sascha fuhr. Er mochte es nicht, den Geruch des Präsidiums mit zu ihr ins Bett zu tragen.
14 Uhr 05. Diese eine Nacht hatte alles verändert. Younas saß im Badezimmer auf dem Klo und starrte blicklos mit großen Augen auf die Wand gegenüber.
Er hatte Sertab vertraut. Er hatte sie mit ihren sechzehneinhalb für vernünftig genug gehalten, selbst zu entscheiden, was gefährlich war.
Sie hätte nie in diesen Wagen steigen dürfen. Ganz gleich, wie spät sie dran gewesen war. Fast ihr ganzes Leben hatte sie in dieser Stadt verbracht. Sie hätte es besser wissen MÜSSEN. In dem Wagen saßen VIER Jungen, die sie kaum kannte. Einer wäre bereits ein unnötiges Risiko gewesen. Aber VIER? Wie hatte sie nur so unendlich dumm sein können?
„ Younas?!“ Die Stimme seiner Frau.
Gleich darauf Klopfen.
„ Younas!!“
Aziza würde keine Ruhe geben. Younas öffnete die Tür.
„ Wo ist sie?“
„ In ihrem Zimmer. Sie will keinen Doktor. Der ändert jetzt auch nichts mehr.“
Younas drängte sich an ihr vorbei zum Zimmer seiner Tochter. Das Licht, das durch die einen Spalt weit offene Tür vom Flur hereinfiel, reichte kaum Sertab in der Finsternis auszumachen.
Die Beine angezogen, hockte sie, den Kopf auf die Knie gelegt, auf dem Bett.
Behutsam ließ er sich neben ihr nieder.
„ Ich muss mit Dir reden“
Die müde Bewegung mit der Sertab zu ihm aufsah, brach ihm fast das Herz.
Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er eine ähnliche Verzweiflung verspürt: Damals als er durch ein Gefängnistor auf einen staubigen Parkplatz getreten war und um ein Haar wirklich geglaubt hätte, das jene staubige endlose Leere alles sei, was er von sich und dem Rest seines Lebens noch zu erwarten hatte.
„ Erzähl es mir. Und lüg mich nicht an dabei.“
Es dauerte bis Sertab in stockenden Worten mit kaum hörbarer Stimme zu reden begann.
Aziza war dagegen gewesen zur Polizei zu gehen. Younas blieb hart. Dieses Land war
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