Glasklar
zusammengefaltete Blätter aus der Jeanstasche und fächerte sich Luft zu. »Meine Herren«, begann er, »eigentlich ist es tatsächlich kein Tag, um sich über ein Projekt zu streiten, wenn uns auf so tragische Weise klar gemacht wird, wie vergänglich doch alles Irdische ist. Was wir heute planen, worüber wir uns heute die Köpfe zerbrechen, das ist vielleicht schon in 200 Jahren in Vergessenheit geraten. Denken wir doch noch einmal darüber nach, welche Kräfte unsere Vorfahren aufgewandt haben, um die heutige Eisenbahnstrecke von Stuttgart nach Ulm zu graben. Ich sage bewusst ›zu graben‹. Es gab weder Planierraupen noch Bagger, und die Einschnitte und Dämme, die wir heute bei Geislingen sehen, sind alle das Ergebnis von reiner menschlicher Muskelkraft und ein paar Sprengungen.« Die älteren Herrschaften nickten. Einige flüsterten sich etwas zu, weil vielleicht ihre Urgroßväter noch Zeitzeugen gewesen waren. »Doch lassen Sie mich zur Sache kommen«, machte Lechner weiter. »Dass wir es hier an der Schwäbischen Alb mit einem Karstgebirge zu tun haben, brauche ich Ihnen nicht zu erläutern. In Jahrmillionen hat das eindringende Oberflächenwasser den Kalk ausgespült und auf diese Weise gigantische Hohlräume entstehen lassen. Die Bärenhöhle, die Nebel- und die Charlottenhöhle sind einige der populären Schauhöhlen, die zum Standardprogramm aller Schulausflüge gehören. Wenn Sie in jüngster Zeit eine dieser Höhlen besucht haben und vielleicht noch in Erinnerung haben, wie es zu Ihrer Jugendzeit dort ausgesehen hat, dann werden Sie schockiert sein. Das elektrische Licht hat dazu geführt, dass die prächtigsten Tropfsteine inzwischen grün geworden sind – durch Moose und Algen und allerlei andere Lebensformen, die sich sofort ansiedeln, wenn in die Jahrmillionen lange ewige Finsternis Licht und Sporen gebracht werden. Verstehen Sie mich nicht falsch …« Lechner kratzte sich am linken, bärenstarken Oberarm und fummelte an seiner Brille herum, die ihm offenbar nicht richtig auf der Nase saß. »Der Mensch muss die Natur erleben, um sie schützen zu können. Nur wer die Wunder der Natur kennt und sich mit ihnen beschäftigt, kann verstehen, warum man sie schützen muss. Aber es stellt sich die Frage, ob wir alles zerstören müssen, nur um für eine – ich sage dies ganz bewusst – ganz kurze Zeitspanne, während der diese Zivilisation am Leben bleibt, einen neuen Verkehrsweg zu schaffen. Denn dass der Tag kommen wird, an dem unsere Nachfahren – sofern es sie noch geben wird und wir die Welt bis dahin nicht zugrunde gerichtet haben – staunend durch die riesigen Waldgebiete Mitteleuropas gehen und auf Mauerreste stoßen werden, die auf dichte Besiedelung vor 10.000 oder 14.000 Jahren schließen lassen, ist absehbar. Dabei werden sie dann verfallene Stollen entdecken, die durch ganze Mittelgebirge getrieben wurden, und vielleicht auch darüber rätseln, welchem Zweck sie gedient haben könnten. Waren es Wasserleitungen oder Verkehrswege, oder waren es Kultstätten, wie man es meist von Funden behauptet, bei denen man keine Ahnung hat, wofür sie gut gewesen sein könnten?«
Der Langhaarige sah plötzlich auf und schien an Lechners Ausführungen höchst interessiert zu sein. Auch die meisten älteren Herren verfolgten sie gespannt und ließen sich nicht von der Bedienung stören, die weitere Getränkebestellungen aufnahm.
»Ich will nicht sagen, dass wir auf moderne Verkehrswege verzichten sollten – auch wenn wir wissen, dass die Zeit des Verbrennungsmotors, wie wir ihn heute kennen, dramatisch schnell zu Ende gehen wird, wenn wir nicht die zerbrechliche Hülle dieses Planeten ruinieren wollen. Denn denken Sie daran, was in China passiert, wo die Motorisierung sehr schnell vorangeht. Denken Sie an Indien oder gar – in noch weitere Ferne geblickt – an Afrika, wo ein Potenzial von vielen Millionen beziehungsweise Milliarden Menschen eines Tages auch mobil sein will. Der Kollaps ist vorprogrammiert, meine Herren«, warnte Lechner mit versteinertem Gesicht und sah einen der Herren nach dem anderen an, als ob diese Jahrgangssemester in ihrer Mehrheit noch etwas dazu beitragen könnten, von Schlat aus die Welt zu retten. »Und was geschieht?«, stellte Lechner eine Frage, die er sogleich selbst beantwortete: »Wir reden uns in kleinen Arbeitskreisen die Stimme heiser, fordern in lokalen Agenden irgendwelche Alibi-Aktionen, mit denen wir unser schlechtes Gewissen gegenüber der Natur
Weitere Kostenlose Bücher