Glasklar
ignorierte die Bemerkung und fragte zurück: »Und wieso traust du dich nicht rein?«
»Ich beobachte nur«, erwiderte Sander knapp. »Erklär ich dir später.«
38.
»Ist Ihnen eigentlich bewusst«, fuhr Lechner fort und genoss die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, »was der Mensch auf diesem kleinen Planeten anrichtet – auf diesem Planeten, der sich in Jahrmilliarden zu dem entwickelt hat, was er heute ist? Wir rotten Lebensformen aus, die nie mehr wieder entstehen werden. Zumindest nicht, solange es den Menschen gibt. Aber in universalen Zeiträumen war der Mensch sowieso nur ein kleines Zufallsprodukt der Natur oder von wem oder was auch immer. Wir zerstören Lebensgrundlagen. Ich will nur zwei Beispiele nennen. Durch das Abbrennen und Roden der Urwälder gehen Pflanzenarten verloren, die möglicherweise Wirkstoffe enthalten, mit denen wir all die Krankheiten hätten bekämpfen können, für die unsere Forschung kein Mittel findet. Gegen jede Krankheit sei ein Kraut gewachsen, behauptet ein altes Sprichwort. Nur, was machen wir, wenn es manches Kraut gar nicht mehr gibt? Oder denken Sie – um hier in der Nähe zu bleiben – an die Schafzucht. Wir verpönen Schafwolle, verbannen sie in irgendwelche Naturläden oder nutzen sie neuerdings zur Dämmung von Häusern. Dass Schafwolle aber ganz andere Qualitäten hat, die unsere Großeltern noch kannten, das wollen wir nicht wahrhaben, greifen stattdessen lieber auf Naturfaser und Baumwolle zurück. Schafwolle«, erläuterte Lechner eindringlich – »ich weiß nicht, ob ich das in diesem Kreis zu sagen brauche, sie hat wunderbare Wärmeeigenschaften und kann bis zu einem Drittel ihres Trockengewichts Wasser aufnehmen, ohne sich feucht anzufühlen. Die Natur schenkt uns so viele Produkte, doch wir verhalten uns, als bräuchten wir sie nicht. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Vergessen Sie nicht – wir alle sind ein Teil dieser Natur.«
Schloz war etwas ungeduldig geworden. Er rückte nervös die Folie hin und her, was wohl signalisieren sollte, dass er liebend gerne zum eigentlichen Thema kommen würde. Lechner schien dies erkannt zu haben und deutete sofort auf die Leinwand. »Hier, meine Herren, hier haben wir es zwar mit einem Raum zu tun, der uns bisher verschlossen geblieben ist – das Innere der Schwäbischen Alb, direkt bei uns. Herr Heidenreich hat Ihnen ja bereits dargelegt, dass uns die hydrogeologischen Gutachten nicht überzeugen. Dieser der Alb vorgelagerte Höhenzug steckt voller Wasser. Der Beweis dafür sind die Quellen, die in all diesen Seitentälern sprudeln. Was glauben Sie, wird geschehen, wenn man dort eine Röhre durchsticht? Natürlich wird die Röhre fein säuberlich abgedichtet. Aber Wasserströme, die unterbrochen werden, suchen sich neue Wege. Es kann zu Hangrutschungen kommen, ja sogar zu Murenabgängen am Rande der Alb. Quellen könnten versiegen, anderswo neu aufbrechen, Bachläufe sich verändern, und plötzlich könnte sogar verschmutztes Oberflächenwasser weiter nach unten sickern zu den Trinkwasser-, Mineralwasser- oder Thermalwasservorräten. Sie wissen, Bad Boll ist nicht weit entfernt. Dies ist das eine.« Er sortierte erneut seine Zettel. »Das andere aber, worauf ich Sie als Höhlentaucher aufmerksam machen möchte, das sind tatsächlich die unwiederbringlichen Naturschätze, die in Jahrmillionen entstanden sind: Stalagmiten und Stalagtiten. Man geht davon aus, dass ein Tropfstein für einen einzigen Zentimeter etwa 100 Jahre braucht. Natürlich können Sie sagen, das hat ja eh keiner gesehen bisher – was soll das also? Aber, meine Herren, ich habe anfangs gesagt, wir haben auch eine Verantwortung gegenüber der Natur, gegenüber diesem Planeten. Wenn wir nie Rücksicht nehmen – und leider hab ich gar keinen Zweifel, dass es so geschehen wird –, dann ist dieser Planet eines Tages verwüstet. Sie wissen, der Mensch könnte dies locker bewerkstelligen mit seinen Atomwaffen – aber er kann es auch schleichend tun, indem er immer weiter in dieses ausgetüftelte und sensible System eingreift – sei es durch Genmanipulationen oder durch das Abholzen der Regenwälder am Amazonas.«
»Was Sie sagen, kann ich voll und ganz unterstreichen«, gab sich der Mann im Strickpulli ungeduldig. Diesen Teilnehmer hatte Linkohr bereits vorhin in jene Kategorie Sitzungsteilnehmer eingeordnet, die sich auf einem schmalen Grat zwischen Polemik und Besserwisserei bewegten und ihre Weisheiten nur aus
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