Glasklar
Dame in der Zentrale erklärte er, dass er dringend einen weiblichen Fahrgast suche, der sich gestern Abend gegen 22.30 Uhr nach Schlat zum ›Lamm‹ habe bringen lassen. Die Frauenstimme beschied ihm höflich, aber bestimmt, dass man derlei Auskünfte nicht gebe, worauf Sander erklärte, er habe mit der Gesuchten einen Interviewtermin ausgemacht, sie aber verpasst und auch ihre Visitenkarte verlegt.
»Wir kennen die Namen unserer Passagiere in der Regel sowieso nicht«, stellte die Angestellte der Taxizentrale ungeduldig klar.
»Das weiß ich«, versuchte Sander, so überzeugend wie möglich zu klingen. »Aber mir würde es schon reichen zu wissen, wo sie sich hat abholen lassen. Dann kann ich zu ihr hinfahren.«
Die Dame überlegte. »Wie war Ihr Name noch mal?«, fragte sie, und Sander buchstabierte ihn. Sie murmelte ein »Moment, bitte« und legte das Gespräch in die Warteschleife. Sander besah sich die beiden Fotografien, die zwischen zwei Monitoren an der Wand hingen. Die eine zeigte ihn vor blühenden Kirschbäumen an irgendeinem Tag im Mai, die andere war beim Brienzer Rothorn im Berner Oberland entstanden.
Endlich meldete sich die Stimme wieder: »Und Sie sind Journalist von der ›Geislinger Zeitung‹?«, vergewisserte sie sich.
»So ist es. Ich kann Ihnen gern meine Telefonnummer geben, damit Sie zurückrufen und sich vergewissern können.« Im gleichen Moment fiel Sander ein, dass er ja gar nicht von der Redaktion aus anrief und die Dame womöglich misstrauisch würde, wenn er ihr seine Privatnummer zum Rückruf gäbe. Doch sie ging nicht darauf ein, sondern lenkte ein: »Schon gut. Der Chef hat gesagt, er würde Sie kennen. Haben Sie mal in Göppingen gearbeitet?«
»So ist es. Bis Ende 1995«, antwortete er wahrheitsgemäß. Alle Welt wunderte sich ohnehin, dass er damals weggegangen war. Offiziell hatte er immer behauptet, ihm sei die Fahrerei auf der permanent verstopften B 10 auf die Dauer zu nervig gewesen.
»Also«, machte die Frau weiter. »Wir haben die Dame um 22 Uhr in Gammelshausen abgeholt – im Lerchenweg. Fahrtziel war das Gasthaus ›Lamm‹ in Schlat. Reicht das?«
»Es reicht. Und sagen Sie Ihrem Chef einen schönen Gruß. Sie haben mir sehr geholfen.«
Sander steckte das schnurlose Telefon in die Schale zurück. Gammelshausen, überlegte er. Schöne Wohngemeinde im Voralbgebiet, nicht weit vom Wasserberg entfernt. Er rief über Google die Homepage dieser Kommune auf, klickte sich zu einem Ortsplan durch und ließ sich den Lerchenweg zeigen. Ortsrandlage. Offenbar ein Neubaugebiet, überlegte er und beschloss, die angegebene Adresse aufzusuchen. Danach würde er sich entscheiden müssen, was mit den Dokumenten geschehen sollte, die er vorsorglich mit nach Hause und in einem Versteck im Keller in Sicherheit gebracht hatte. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, sie für alle Fälle seinem Nachbarn Erwin Schmidt zu geben. Denn wenn die Staatsanwaltschaft alle Register zog, um an die Aufzeichnungen zu gelangen, würden sie die Redaktionsräume und natürlich die Wohnung des Journalisten durchsuchen.
Sander verabschiedete sich von seiner Lebensgefährtin, die ihm zum wiederholten Mal dringend riet, unbedingt noch heute eine Entscheidung über den weiteren Fortgang seiner Recherche zu treffen. »Ich will das Zeug nicht länger im Haus haben«, bemerkte sie energisch.
Speckinger war noch einmal zu Meinländer gefahren, dem pensionierten Pädagogen. Er traf ihn vor dem bungalowähnlichen Gebäude, wo er sich einige zerrupfte Stauden besah, die den kräftigen Hagelschauer am gestrigen Nachmittag nicht unbeschadet überstanden hatten. »Klimawandel«, kommentierte Meinländer nach der Begrüßung. »Gerade bei uns im Südwesten soll es immer extremere Wettererscheinungen geben – steht so in der Zeitung.«
Speckinger entschuldigte sich für den unangekündigten Besuch, was sein unverhoffter Gastgeber jedoch mit Verständnis aufnahm und den Kriminalisten zu einer Sitzgruppe auf der Terrasse bat. Dort war seine Ehefrau mit dem Abzupfen frischer Erdbeeren beschäftigt und lächelte dem Gast zu: »Gibt köstliche Marmelade, die mein Mann besonders gerne isst.«
Speckinger setzte sich, während ihm Meinländer Mineralwasser einschenkte. »Ganz schön schwül ist es heute«, stöhnte er. »Das gibt am Abend wahrscheinlich wieder ein saftiges Gewitter.«
Der Kriminalist erklärte, dass es noch einige Fragen gäbe, die er klären wolle. »Stichwort Sander«, begann er direkt
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