Glasklar
Albtraum ins Gedächtnis, von dem er in den Morgenstunden geplagt worden war. Ziegler hatte ihn einsperren lassen, um ihn zu einer Aussage zu zwingen. In einer winzigen Zelle ohne Fenster, nur mit einer Glühbirne beleuchtet, die am Kabel von der Decke hing. Sander versuchte, diesen Gedanken loszuwerden, doch ihm war so, als schliefe ein Teil seines Gehirns noch und wolle den Traum zu Ende führen.
Er nahm erneut einen kräftigen Schluck Kaffee, um seine Lebensgeister zu wecken. Doch mehr als ein Zwicken in Magen und Darm erreichte er damit nicht.
Weil er nichts sagte, vertiefte sich Doris in den Artikel, der zwar aus über 100 Zeilen bestand, jedoch kaum etwas Neues enthielt – wenn man von dem Hinweis auf die Brille absah.
»Sag mal«, unterbrach Doris seine Gedanken, »wie viele Brillen hast eigentlich du?«
»Ich?« Er deutete ein gezwungenes Lächeln an. »Was weiß ich … wieso fragst du mich das?«
»Na ja, man soll der Kripo doch jetzt melden, wenn man jemanden kennt, der eine Brille verloren hat oder dem eine kaputt gegangen ist.« Sie dachte nach: »Aber sei mal ehrlich, so etwas muss einem nicht unbedingt auffallen. Schließlich hat jeder mindestens eine Ersatzbrille, oder?« Sie musterte ihn lauernd von der Seite und bemerkte spitz: »Wenn ich mir nur überleg, dass du auch eine ganze Menge davon herumliegen hast.«
Sander antwortete nichts, sondern holte mit der Messerspitze Marmelade aus dem Glas.
»Wahrscheinlich würde mir gar nicht auffallen, wenn plötzlich eine deiner Brillen fehlte«, sagte Doris und blickte über ihre eigene schmale Lesebrille hinweg auf.
»Ist das jetzt ein schlechter Witz oder was willst du damit sagen?«, fragte er leicht ungehalten zurück.
»Warum bist du denn so gereizt? Du hast doch nichts zu verbergen. Wir haben die Feier doch gemeinsam verlassen«, beruhigte sie ihn. »Oder hast du das vergessen?«
»Eine Frage noch, Chef«, meldete sich einer der ältesten Kollegen zu Wort, als Häberle die morgendliche Konferenz gerade für beendet erklären wollte. »Weiß man denn jetzt etwas über Flippi?«
Augenblicklich wurde es still im Raum. Nur das Zwitschern einiger Vögel war durch das offene Fenster von der kleinen Parkanlage herüber zu hören, die die Göppinger großspurig ›das Schlosswäldle‹ nannten.
Häberle sah seine Kollegen an. »Flippi«, wiederholte er, »das sieht so aus, als ob uns Sander damit einen Happen vorgeworfen hätte, um zu zeigen, dass er tatsächlich etwas weiß, das uns interessieren könnte. Aber ich will es mal so formulieren: Das sind alte Kamellen. Wohl irgendeine Sache aus Heidenreichs Polizeivergangenheit. Frau Maller und ich haben gestern noch versucht, etwas zu erfahren. Aber es sieht eher danach aus, als ob Sander irgendwo etwas aufgeschnappt hat und uns damit neugierig machen möchte.«
»Ein Wichtigtuer«, kommentierte jener Kriminalist, der bereits für eine härtere Gangart gegen den Journalisten plädiert hatte. »Ein Dummschwätzer!«, bekräftigte er sich selbst. »Wenn der Ziegler den Kerl nicht endlich versenken lässt, ist das auch ein Weichei.« Unter ›versenken‹ verstanden manche Juristen das Einsperren.
Speckinger sah den Chefermittler quer durch den Raum skeptisch an. Er wollte etwas sagen, verwarf dann aber den Gedanken, denn wenn Häberle nicht mit der Sprache herausrücken wollte, wäre es ungeschickt, ihn vor versammelter Mannschaft bloßzustellen. Auch Linkohr schien ähnlich zu denken. Er suchte Blickkontakt zu Speckinger.
Häberle hob beschwichtigend die Hände. »Wenn die Sache mit diesem Flippi – vorausgesetzt, es gibt ihn überhaupt – in irgendeiner Weise für unseren Fall relevant ist, werden wir sämtliche Akten dazu wälzen.«
Die Kollegen hatten keinerlei Zweifel, dass dies so sein würde. Dennoch, das war auch Häberle nicht entgangen, blieb eine gewisse Skepsis, es könnte ihnen etwas vorenthalten werden. Schließlich aber überwog die langjährige Erfahrung, von ihrem Chef niemals im Unklaren gelassen worden zu sein.
41.
Sander hatte sich vom Frühstückstisch erhoben und war in sein privates Büro auf dem Dachboden gegangen. Von dort aus schickte er ein E-Mail in die Redaktion und teilte mit, dass er ›wegen einer Recherche‹ später kommen werde. Er wollte das Telefonat, dem er die ganze Nacht entgegengefiebert hatte, nicht im Büro führen. Übers Internet suchte er die Nummer der Taxizentrale Göppingen, rief sogleich an und gab sich als Journalist zu erkennen. Der
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