Glasklar
Blick von ihr, als wolle er sie nicht kränken. »Und wisst ihr, wer das ist?«, fuhr er fort. »Das ist die Freundin von Werner Heidenreich. Jetzt hat man sie umgebracht, wie er umgebracht wurde – jedenfalls sieht es so aus: mit einigen Stichen in den Bauch.«
Häberle merkte, wie sein Atem schwer wurde. Die Tritteisen des ersten Schachtes hatte er hinter sich gebracht, doch nun musste er sich umdrehen. Gewaltsam versuchte er, seinen Körper in eine halbe Rotation zu versetzen, doch der Schlaz kratzte und schabte an der Felswand, der Helm stieß gegen Gestein. Er spürte diesen kalten Schlick im Gesicht, nahm die Ellbogen zu Hilfe, um sich in die gewünschte Position zu bringen. »Alles okay?«, dröhnte eine Stimme dumpf durch den Schacht. Er konnte nicht sagen, ob von unten oder von oben, wo sich bereits die ockergelb verschmutzten Schuhe des nachfolgenden SEK -Mannes näherten. Endlich – der Kommissar lag auf dem Rücken und stemmte sich mit den Händen an der Decke ab, um seinen massigen Leib weiter in diesen Schlund hinabzuschieben. Gleichzeitig suchte er mit der Hinterkante seiner Schuhe einen festen Halt, zog die Knie, so weit es ging, an sich heran – bis die Kniescheiben den Fels berührten – und brachte sich weiter abwärts. Er mochte nach kräftezehrenden zwei Minuten etwa die Hälfte dieses schiefen Ganges durchrutscht haben, als er eine Stimme hörte, die nicht zu diesem Szenario passte. Er hielt für einen kurzen Moment inne und lauschte. Hinter ihm war das Atmen des SEK -Mannes zu hören – und vor ihm das Streifen, das der reißfeste Schlaz des anderen an den Felswänden verursachte. Doch da war es schon wieder: Eine Stimme, eine Frauenstimme – ja, es war eine Frauenstimme, die um Hilfe rief. Noch immer blieb Häberle regungslos auf dem Rücken liegen und lauschte. »Hilfe – helft mir – Hilfe!« Jetzt bestand kein Zweifel mehr.
»Hört ihr das?«, rief Häberle so laut, dass der enge Schacht zu vibrieren schien. Gleichzeitig begann er, sich schneller und heftiger vorwärtszuarbeiten. Der Mann über ihm hatte bereits aufgeschlossen. »Hilfe, Hilfe!« – immer wieder die verzweifelten Schreie einer Frau, laut und panisch.
Häberle hatte die schiefe Ebene überwunden, klammerte sich an die Halterungen, die er wie von Schmolke beschrieben vorfand, und streckte seine Beine in den Hohlraum, zappelte, suchte einen Halt – und spürte schließlich erleichtert die Trittsprosse einer Leiter. In diesem Moment mischte sich die Stimme eines Mannes in die Hilfeschreie. Es war einer der beiden SEK -Männer, der als Zweiter in Windeseile die glitschige Leiter abwärtsgeglitten war. »Da ist eine Frau«, rief er, »eine Frau!«
Häberle stand jetzt auch auf der Leiter und riskierte einen Blick über seine Schulter in diese schwindelerregende Tiefe. Vor ihm war der andere SEK-Mann, unter diesem stieg Schmolke abwärts. Ganz unten, das erkannte der Kommissar, während er weitaus zaghafter hinabstieg, als die Jungs vom SEK dies taten, gab es dieses Gitterrost-Plateau, auf dem eine Frau an der nassen Felswand lehnte und in die Knie sank. Sie hatte aufgehört zu schreien und war wohl am Ende ihrer Kräfte.
Häberle konzentrierte sich auf die Sprossen, die dick mit der ockergelben Masse verschmiert waren. Seine Hände umklammerten ein Eisenteil nach dem anderen, während die Schuhe des Nachfolgenden sich bereits bis auf drei Sprossen genähert hatten.
Der Chefermittler hatte die Hälfte der senkrechten Leiter überwunden, als er wieder einen Blick nach unten riskierte. Er sah, wie der erste SEK -Mann bei der Frau kniete und sich jetzt auch Schmolke zu ihr beugte. »Passen Sie auf!«, entfuhr es der Frau plötzlich. »Passen Sie auf – er ist da drin.« Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm in die dunkle Spalte, die abseits des Gitterrost-Plateaus ins Berginnere weiterführte. Eine halbe Minute später stand auch Häberle mit weichen Knien auf dem sicheren Gitter und war mit drei Schritten bei den drei Männern und der Frau, die wie ein hilfloses, verschüchtertes Mädchen dasaß. Nicht nur ihr Schlaz und ihr Helm waren vollständig mit dieser klebrigen Masse verschmiert, sondern auch ihr Gesicht. Sie begann hemmungslos zu weinen, sodass sich die Tränen mit dem feuchten Schmutz vermischten und bräunlich-gelb über die Wangen liefen.
Während sich Häberle und Schmolke ihrer annahmen, wandten sich die beiden SEK ler und ihr dritter Kollege, der inzwischen ebenfalls das Plateau erreicht
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