Glasklar
konfrontiert gewesen wäre, aber die Gewalttaten an Schulen, insbesondere an den beruflichen, wo gerne auch perspektivlose Jugendliche in irgendwelchen Berufsvorbereitungsjahren geparkt waren, nahmen teilweise dramatische Formen an. Und er selbst, das war Bayreuter sehr schnell klar geworden, hatte keinerlei Handhabe, der oft schon erwachsenen Schüler Herr zu werden. Aber auch den jüngeren konnte er kaum große Sanktionen auferlegen, zumal es nicht selten vorkam, dass dann die Eltern energisch wurden oder gar gleich mit anwaltlichen Schreiben reagierten. Das waren die Momente, in denen Bayreuter an seine eigene Schulzeit denken musste, an die autoritären Pauker, die keine Widerrede duldeten und die gefürchtet waren – schlimmer noch als der Teufel höchstpersönlich. Sich über sie bei den Eltern zu beklagen, wäre glatter Irrsinn gewesen, weil es dann nur noch größeren Ärger gegeben hätte. Damals genossen die Lehrer noch Ansehen. Doch seit sich dies grundlegend gewandelt hatte, davon war Bayreuter zutiefst überzeugt, verfielen die Sitten. Natürlich war er kein Freund eines streng autoritären Erziehungsstils, aber längst hatte das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen. Wer etwas anderes behauptete, so argumentierte er oft genug vor Politikern oder anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, der hatte noch nie einem Hauptschul- oder Berufsschulunterricht beigewohnt, wo die coolen Jungs und Mädels deutlich zum Ausdruck brachten, was sie von all dem hielten: nämlich nichts.
Dass die Brutalität grenzenlos war, das konnte Häberle bestätigen. Auf den Schulhöfen wurde zwar nicht häufiger geprügelt als in vergangenen Zeiten. Aber die Gewaltbereitschaft hatte eine ganz neue Dimension erreicht. Während früher eine Prügelei beendet war, wenn einer der Beteiligten am Boden lag, wurde heutzutage dann erst recht noch auf das wehrlose Opfer eingetreten. Die Gewalt, die bereits am Sonntagvormittag in den Zeichentrickfilmen der einschlägigen Fernsehsender in die Kinderzimmer transportiert wurde, setzte sich nahtlos in der Realität fort. Nur mit dem Unterschied, dass Jugendliche und Heranwachsende nicht mehr unterscheiden konnten, was Film und was Wirklichkeit war. »Haben Sie denn im Laufe des Abends Verdächtiges gehört oder gesehen?«, beendete Häberle seine Betrachtungen und knüpfte vorsichtig an die Bemerkungen der Männer an.
»Überhaupt nichts«, sagte Brandt. »Aber Sie sollten bedenken: Es war in diesem Gelände sehr viel los. Vergessen Sie nicht, dass drüben am Hexensattel das große Mittsommerfest war – mit Tausenden von Menschen. Es sind zwar drei Kilometer bis hierher, aber Sie wissen selbst, wie die Sperrung von den Autofahrern missachtet wird. Aber wenn uns hier oben etwas verdächtig vorgekommen wäre, hätten wir uns darum gekümmert.«
Häberle hegte daran keinen Zweifel. So, wie die beiden auftraten, würde man ihnen jederzeit einen Gebrauchtwagen abkaufen, dachte er. Dabei hatten sie völlig unterschiedliche Berufe – der eine ein Beamter, der andere ein Manager. Doch irgendwie verband sie eine innere, sehr bodenständig geprägte Einstellung. Noch während Häberle diese Charakterisierung vornahm, klopfte es, und ein Kriminalist öffnete die Tür, ohne die entsprechende Aufforderung abzuwarten. »Entschuldigung«, sagte er, »aber wir haben eine wichtige Sache.« Er war unsicher, ob er stören konnte. Häberle erhob sich, bat seine Gesprächspartner um Verständnis und verließ den Raum. Nachdem er die Tür hatte einrasten lassen, erklärte der Kollege im Flüsterton, worum es ging: »Wir haben einen Pkw entdeckt, einen Renault Twingo. Drüben auf der Heidelandschaft.«
»Oh!«, zeigte sich Häberle interessiert, verschränkte die Arme und sah sein Gegenüber im Halbdunkel des holzgetäfelten Flurs an.
»Dass da jemand rauffährt, ist ja nichts Außergewöhnliches«, fuhr der rundliche Beamte fort, »aber der Halter des Fahrzeugs bereitet uns Sorge.«
Häberle ermunterte den Kollegen mit einer raschen Kopfbewegung, weiterzureden. Nach einigen Sekunden des Zögerns gab der Kriminalist noch eine Stufe leiser die Feststellung preis, die sie alle schockiert hatte: »Linkohr. Mike Linkohr. Unser Kollege aus Geislingen.«
Häberle war für einen Moment sprachlos. Die Gedanken wirbelten ihm nur so durch den Kopf. Linkohr. Seit Stunden versuchten sie, ihn zu erreichen. Linkohr, hier? Ohne sich gemeldet zu haben. Zwar gab es kein richtiges Lokalradio mehr – und
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