Glasklar
und zu schweigen.
Der Hubschrauber der Landespolizeidirektion Stuttgart schwebte knapp über den Baumwipfeln und ließ orkanartige Böen durchs Geäst toben. Verwelkte Blätter wirbelten auf, dürre Ästchen brachen ab. In weitem Umkreis wurden Wanderer auf das polizeiliche Spektakel aufmerksam, das jetzt die sonntägliche Ruhe auf dem Bergrücken auch aus der Luft störte. Während eine Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei aus Göppingen durch Hochwald, Dickicht und Lichtungen streifte, versuchten zwei Beamte aus dem Helikopter heraus, Verdächtiges zu erkennen. Was sie genau suchten, vermochten sie allerdings nicht zu sagen. Doch bei Verbrechen in freier Landschaft war es üblich, den Tatort und seine Umgebung auch aus der Luft in Augenschein zu nehmen.
Zunächst hatten sie die Lichtung, an deren Rand der Tote aufgefunden worden war, aus verschiedenen Perspektiven fotografiert. Jetzt galt es noch, abgestellte Fahrzeuge zu finden. Die beiden Beamten entdeckten drei Geländewagen, deren Positionen sie per Funk an die Bodenmannschaft weitergaben. In einem Waldstück stand ein Traktor, der dort jedoch, wie sie vermuteten, schon längere Zeit abgestellt war. Auf allen Wegen, auf denen nicht dichtes Blätterwerk die Sicht versperrte, waren an diesem Sonntagmittag Ausflügler unterwegs, die innehielten und zu dem Hubschrauber hinaufsahen. Während der Pilot auf dem rechten Sitz seine Instrumente und den Luftraum gleichermaßen im Auge behielt und gegen die Thermik ankämpfte, die von den sonnigen Flächen ausging, nahm sein Kollege mit dem Fernglas eine grasbewachsene Lichtung schräg unter sich ins Visier. Schweiß rann ihm unterm Helm hervor, denn die Sonne stach gnadenlos durch die Glaskuppel ins Innere des Helikopters. »Schau mal da rüber!«, hörte er plötzlich die Stimme des Piloten im Kopfhörer. Sein Kollege deutete nach rechts und brachte den Hubschrauber in atemberaubende Schräglage. »Ein Zelt«, ergänzte er. Der Beamte neben ihm hatte bereits das Fernglas darauf gerichtet. Es war ein olivgrünes Zweimannzelt, von dem nur die Vorderseite aus dem Waldrand herausragte. Der Reißverschluss schien geschlossen zu sein, davor standen zwei Paar Schuhe. »Soll ich runter?«, fragte der Pilot. Er hatte sich vergewissert, dass die Lichtung groß genug war.
»Nicht nötig«, gab der Kollege zurück. »Ich sag den Jungs da unten Bescheid.« Er griff zum Mikrofon, nahm Kontakt mit dem Einsatzleiter auf und erklärte in knappen Worten, über welche Wege die Lichtung zu finden war. Dann deutete er dem Piloten mit einer Handbewegung an, dass er weiterfliegen konnte. »Ein Liebesnest«, kommentierte er die Entdeckung. »Was glaubst du, was sich auf diesem Berg in solchen Nächten alles abspielt?«
Der Kollege auf dem Kopilotensitz wollte nichts dazu sagen. Auch er würde gern mal wieder in einer lauen Vollmondnacht am Waldrand liegen und den Duft von Blüten in sich aufsaugen. Natürlich nicht allein. Für ein paar Sekunden hatte sein Gehirn das Knattern des Rotors ausgeblendet, das durch den Gehörschutzhelm dumpf an sein Ohr drang. Jetzt war es wieder da. In seinem Fernglas zog der Waldrand langsam vorbei – bis nichts mehr zu sehen war außer dem undurchdringlichen und in tausend Grünschattierungen schimmernden Blätterdach. Er nahm das Fernglas von den Augen, um sich neu zu orientieren. In der Ferne blitzten die Tragflächen von Segelfliegern, die entlang der Albkante die Thermik nutzten und sich in die Höhe schraubten. Während er links hinab zum Zufahrtsweg sah, der sich über eine steil abfallende Heidelandschaft zur Hochfläche schlängelte, drehte der Pilot die Maschine in eine steile Rechtskurve, sodass der künstliche Horizont wie wild zu tanzen begann und der Kompass rotierte. Der Beamte am Steuerknüppel hatte offenbar etwas entdeckt. »Guck dir das an«, gab er seinem Kollegen über die Bordsprechanlage zu verstehen. »Da!« Er legte den Helikopter in eine linke Steilkurve, wodurch sich nun dem Mann auf dem linken Sitz die geeignete Perspektive bot. Der Kopilot brauchte ein paar Sekunden, bis er entdeckt hatte, was gemeint war: In einem steil abwärts führenden, grob geschotterten Weg stand etwa 100 Meter von der beliebten Wanderroute entfernt, ein silberfarbener Kleinwagen im Schatten eines Heckenstreifens. Der Beamte setzte das Fernglas wieder an die Augen und stellte fest: »Ein Twingo, ein Renault. Göppinger Kennzeichen …« Er nannte die Buchstaben- und Zahlenkombination, um sie
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