Glasklar
aufgegeben.
Ungeachtet dessen raste der Unbekannte weiter nach oben, vorbei an einem längst verwachsenen kleinen Steinbruch. Sander war klar, dass sich vor ihnen jetzt gleich der steil aufragende Wiesenkegel des markanten Burren vom Nachthimmel abhob.
Der Kerl hinterm Steuer musste verrückt geworden sein.
Sigge Starz und seine Lebensgefährtin Monika Steinhaus hatten sich an diesem lauen Sommerabend in Geislingen auf der rebenumrankten Terrasse der Pizzeria ›Antica Roma‹ mit den Pettrichs verabredet. Sie alle hatten das Bedürfnis, das schreckliche Geschehen gemeinsam zu verarbeiten. Die Terrasse in mediterranem Stil an der Rückfront des Gebäudes gab den Blick auf windschiefe Altstadthäuser frei. An Abenden wie dem heutigen bedurfte es eines gewissen Glücks, noch freie Plätze zu finden. Die vier Personen hatten es: Als sie kamen, wurde ein Vierertisch in der hintersten Ecke frei.
Sie entschieden sich für Pizzen mit Knoblauch und bestellten eine Flasche süditalienischen Rotwein.
»Hat der euch eigentlich auch nach dem Messer gefragt?«, wollte Monika Steinhaus wissen, nachdem Kono, der italienische Gastwirt, wieder verschwunden war. Sie meinte den Kriminalisten, über dessen Fragen sich Ursula Pettrich verwundert geäußert hatte.
»Ja, klar«, bestätigte Alfred Pettrich forsch und schnell, wie er immer zu sprechen pflegte. »Liegt doch nahe, oder? Da hat einer ein Messer im Bauch – ratzfatz –, und wir wundern uns, dass man uns danach fragt?« Er brauchte seine Stimme kaum zu dämpfen, denn die Gespräche an den Tischen um sie herum waren laut genug, dass keiner verstehen konnte, worüber sie sprachen.
»Ziemlicher Arroganzling, dieser Speckinger, oder wie der heißt«, blieb Monika Steinhaus hartnäckig. »Als ob wir was mit der Sache zu tun hätten! Manchmal hat man den Eindruck, die schnappen sich den Nächstbesten.«
Sigge Starz sah sie strafend von der Seite an und unterbrach sie: »Also, diesen Eindruck hab ich nicht gehabt.« Er schichtete zwei Bierdeckel übereinander.
»Ich trau denen nicht«, blieb Monika standhaft und energisch. »Was glaubt ihr denn, wie viel Spuren die an dem Messer finden werden! Jeder von uns hat es im Laufe des Abends in der Hand gehabt. Jeder. Ich sag euch, das kann ganz dumm enden. Erst kürzlich hab ich die Dokumentation über Vera Brühne im Fernsehen gesehen. Brühne – kennt ihr doch, oder?«
Die anderen drei waren sich ebenfalls einig. Es war einer der aufsehenerregendsten Indizienprozesse in der bundesdeutschen Justizgeschichte. Vieles, was zur Verurteilung geführt hatte, ließ sich heute nur schwer nachvollziehen.
»Oder die Sache mit dem Bäcker in dem Kaff bei Heilbronn …« Monika suchte nach dem Namen, worauf Alfred Pettrich einsprang: »Siegelsbach. Der, der angeblich bei einem Banküberfall eine Kundin erschossen hat, aber alles vehement bestreitet.«
»Und in der Revision vor zwei Monaten zu ›lebenslänglich‹ verurteilt wurde«, fuhr Monika empört fort. »Wisst ihr denn, was es bedeutet, in so eine Sache verwickelt zu werden?«
»So schnell geht’s auch wieder nicht«, versuchte Ursula Pettrich, die Frau zu besänftigen.
»Hast du ’ne Ahnung! Guck dir doch die Dokumentationen an – in Sat.1, ProSieben oder RTL . Dort decken sie solche Justizirrtümer auf.«
Alfred Pettrich drückte mit dem Zeigefinger seine Brille dichter an die Stirn und sah Monika an: »Du redest, als hättest du Angst.«
»Quatsch!«, empörte sie sich so laut, dass ein Mann am Nebentisch den Kopf wandte. »Red doch keinen Unsinn, Alfred. Ich mach mir halt so meine Gedanken. Darf ich denn das nicht?«
»Beruhige dich!«, fuhr ihr Lebensgefährte Sigge dazwischen, der ihre emotionalen Ausbrüche kannte.
Alfred Pettrich fasste ihr beruhigend an den Unterarm: »Ich glaube, dass wir nichts zu befürchten haben. Derjenige, der Werner umgebracht hat, hat sicher ganz › andere Motive‹.«
»Was heißt, andere Motive!«, brauste Monika wieder auf. »Soll das heißen, dass wir auch welche hätten?«
Alfred seufzte in sich hinein. »Ich meine, dass er sicher ein Motiv hat – während wir doch, wie wir hier sitzen, keines haben.« Er überlegte kurz. »Oder seh ich das falsch?«
Niemand ging auf diese Bemerkung ein. Währenddessen brachte Kono den Wein. Er hielt Alfred, von dem er annahm, dass er das Sagen hatte, die Flasche mit dem Etikett vor und ließ ihn einen Schluck verkosten. Nachdem Alfred freundlich genickt hatte, füllte der Italiener die
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