Glasklar
Werner, die schillernde Persönlichkeit, die Nähe zu Katrin gesucht haben könnte. Sie versuchte sich zu erinnern, wie das damals in der Schule gewesen war. Doch mehr, als dass Katrin meist alle Klassenarbeiten mit Supernoten geschrieben hatte, fiel ihr nicht ein.
»Sie werden den Täter finden«, betonte sie, während sie wieder in ihrem Sessel saß. Krampfhaft überlegte sie, wie sie ihrer Schulfreundin aus dem Stimmungstief helfen konnte. Allein schon, dass sie anrief, war ungewöhnlich. Aber was war an einem Tag wie heute schon normal? Alle hatten sie miteinander telefoniert, ihre Vermutungen ausgetauscht und auch Ängste angesprochen, die nie zuvor ein Thema gewesen waren.
»Dass sie den Täter finden, ist zu hoffen«, erwiderte Katrin nach einigem Überlegen. »Aber die gehen doch nicht davon aus, dass einer von uns …?«
»Wahrscheinlich müssen sie von allem ausgehen«, antwortete Heidelinde schnell. »Aber ich glaube, wir sollten ihre Nachforschungen nicht überbewerten.« Weil Katrin nichts sagte, riskierte sie die Frage: »Die meisten von uns sind doch mit jemandem runtergegangen und können gegenseitig bestätigen, dass sie es nicht waren.«
»Die meisten … ja, das ist so.«
»Und du bist frühzeitig runter«, tröstete Heidelinde, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass Katrin damit wohl kaum in einen Verdacht geraten konnte.
Katrin erwiderte nichts. Sie hatte zwar angerufen, aber keine Lust mehr, über sich und ihre Situation zu reden. Wer würde schon verstehen, dass sie oft einsam durch die Nächte spazierte? Dass sie einerseits allein sein wollte, andererseits gegen eine innere Unruhe ankämpfte, die sie mal hierhin und mal dorthin trieb. Und dass sie Angst hatte, in diese Sache hineingezogen zu werden.
Georg Sander hatte bemerkt, wie plötzlich das Display seines Handys erlosch. Der Akku war leer. Während der Geländewagen über einen schmalen Asphaltweg jagte, noch immer gefolgt von den jetzt aufgeblendeten Scheinwerfern, ließ der Journalist das Gerät vorsichtig wieder in der Innentasche seines Jacketts verschwinden. Er hoffte inständig, dass die Akkuladung noch gereicht hatte, um bei der Polizei gehört zu werden.
Sie erreichten ein Waldstück mit einer Wegegabelung, wo es keinen Asphalt mehr gab. Der Mann hinterm Steuer raste mit Vollgas geradeaus weiter und die Scheinwerfer trafen auf ansteigendes Gelände. Links eine Heidelandschaft, rechts eine abfallende Hangwiese. Schräg vorne erkannte Sander durch die Windschutzscheibe einige Lichter, die er dem kleinen Weiler Grünenberg zuordnete. Als naturverbundener Wanderer kannte er sich aus. Der Kerl, so mutmaßte er, wollte jetzt versuchen, den Verfolger auf unbefestigten Wegen abzuschütteln. Schon jetzt peitschte der dicke Grasbewuchs am Unterboden des Geländewagens entlang. Gleich, beim nächsten Waldstück, würde der Forstweg für den Pkw hinter ihnen nicht mehr so komfortabel sein.
Sander hatte beschlossen, nichts mehr zu sagen. Wenn sein ungewöhnlicher Notruf erfolgreich gewesen war, lief bei der Polizei jetzt das übliche Programm ab. Sie würden den Bereich Grünenberg und Gingen absuchen und sicher schnell die Scheinwerfer im Gelände entdecken. Die Frage war nur, wie lange die Streifenwagen brauchten, bis sie hier eintrafen.
Der Wagen holperte jetzt kräftig, sodass irgendwelche Gegenstände im Laderaum unablässig schepperten. Sander klammerte sich wieder an die Sitzkante und bemerkte, wie der Abstand zum Verfolger größer wurde. Auf dem Forstweg lagen dürre Äste und die festgetrockneten Traktorenspuren waren so tief, dass der Fahrer hinter ihnen kaum eine Chance haben würde, unbeschadet durchzukommen. Der Geländewagen hingegen hüpfte, schanzte und schaukelte über derlei Hindernisse, bis die Scheinwerfer wieder auf eine Hangwiese trafen, vor der ein schmaler Asphaltweg links steil zum Waldrand hinaufführte. Der Mann am Steuer bremste scharf ab, um das Steuer herumzureißen und mit voller Beschleunigung die Steilstrecke hochzurasen. Sekunden später mündete der schmale Asphaltstreifen erneut in einen geschotterten Forstweg, der sofort eine Haarnadelkurve beschrieb. Steine knallten gegen das Bodenblech, die Reifen schleuderten Kies in den Randbewuchs. Als der Wagen durch die scharfe Linkskurve fegte, wurde Sander nach rechts gedrückt, konnte aber dennoch durch die Seitenscheibe die bereits zurückgelegte Strecke auf dem Forstweg überblicken. Dort war kein Scheinwerferlicht mehr. Der Verfolger hatte
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