Glasklar
Heidelinde hatte den Eindruck, sie sei außer Atem. Aber möglicherweise war sie nur innerlich aufgewühlt, weil ihr die Ereignisse genauso nahegingen wie allen, die am Lagerfeuer mit dabei gewesen waren. »Aber die Sache mit Werner …« Sie stockte. »Uli hat mich angerufen …«
Heidelinde ging mit dem Telefon ins Wohnzimmer und ließ sich müde in einen Sessel fallen. »Du hast noch gar nichts gewusst?«
»Erst durch Uli – er hat mich, wie gesagt, angerufen. Und dann ist ein Kripobeamter gekommen«, erwiderte Katrin mit schwacher Stimme. »Er ist da oben tatsächlich erstochen worden?«
Heidelinde wusste, dass sie ihre Worte vorsichtig wählen musste. Katrin war, das war kein Geheimnis, psychisch angeschlagen und mit ihrem Beruf als Lehrerin völlig überfordert. Wahrscheinlich würde sie demnächst sogar frühzeitig in den Ruhestand gehen. Nie hatte sie den schmalen Grat gefunden, der heutzutage in der Schule notwendig war, um einerseits eine gewisse Autorität zu haben, andererseits aber den teilweise weltfremden Vorstellungen von Eltern und einer, wie es ihr schien, geradezu hilflosen Bildungspolitik gerecht zu werden, die den Lehrern nicht mehr den erforderlichen Rückhalt gab. Was blieben schon noch für Möglichkeiten, rauflustigen und ungezogenen Kindern und Jugendlichen beizukommen? Gab sie ihnen Strafarbeiten auf, rebellierten die Eltern und behaupteten, damit werde Zeit vergeudet. Und als sie einmal Nachsitzen angeordnet hatte, war sie mit einem Anwaltsschreiben konfrontiert worden, in dem ihr Freiheitsberaubung unterstellt wurde. Wenn sie vor der Klasse referierte, hörte mehr als die Hälfte der Schüler gar nicht zu und beschäftigte sich demonstrativ mit anderen Dingen. Ihr Rektor hatte ihr zwar empfohlen, energisch durchzugreifen, doch wie dies geschehen sollte, ohne gleich wieder irgendwo anzuecken, vermochte niemand zu sagen.
Heidelinde kannte die Probleme ihrer ehemaligen Mitschülerin, die schon damals keinerlei Durchsetzungsvermögen gezeigt hatte. »Am ›Mammut‹«, bestätigte sie jetzt leise. »Erstochen, ja.«
»Und niemand weiß, wer es war?«, kam es zögernd zurück.
»Bisher hab ich nichts weiter gehört. Heute Nachmittag war auch bei mir ein Kriminalbeamter, weil ich mit Sabine schon gegangen war und Werner noch bei seinen ›Wilden Gesellen‹ geblieben ist.«
»Da seid ihr ja direkt dort vorbeigekommen …«
»Ja, genau das überleg ich mir die ganze Zeit schon. Vielleicht …« Sie zögerte, es auszusprechen, »… vielleicht hat der Täter dort schon auf ihn gelauert.«
Katrin schwieg, weshalb Heidelinde fortfuhr: »Eine schreckliche Vorstellung.«
Wieder trat eine dieser peinlichen Pausen ein. »Weißt du«, meinte schließlich Katrin, »es gibt so viel Schreckliches unter den Menschen. So viel …« Sie atmete hörbar.
Heidelinde lauschte. Sie hatte schon vergangene Nacht gespürt, dass es Katrin nicht besonders gut ging. Ihr Gemütszustand, so schien es, war seit dem letztjährigen Treffen schlechter geworden.
»Schreckliches und Unvorstellbares«, versuchte Heidelinde, auf ihre Schulfreundin einzugehen. »Aber trotz allem – wir dürfen uns von dem Schlechten und Bösen nicht unterkriegen lassen. So schlimm auch alles sein mag.« Wieder musste sie an ihre eigene Situation denken. Eigentlich hätte sie selbst Zuspruch und Seelentrost gebraucht, doch das wollte sie sich ihrer Schulfreundin gegenüber nicht anmerken lassen. »Haben die denn gesagt, ob es schon irgendwelche Hinweise gibt, wer das getan haben könnte?«
Katrin wiederholte sich, aber in ihrem Zustand, das konnte sich Heidelinde vorstellen, war es schwierig, sich überhaupt zu konzentrieren.
»Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte sie. »Aber wenn es dich interessiert, kannst du ja mal Georg anrufen. Als Journalist weiß er wahrscheinlich mehr als wir.«
Katrin erwiderte nichts.
»Ich hab seine Handynummer, wenn du sie willst«, bot Heidelinde ihre Hilfe an.
»Nein, nein«, wiegelte die Frau ab. »So wichtig ist das auch nicht. Weißt du, was nützt es schon, einen Täter zu finden? Ist es Genugtuung oder das Gefühl der Rache, wenn er verurteilt wird? An Werners Tod ändert das auch nichts mehr.«
Heidelinde stand auf und drückte die Balkontür zu. Es war kühl geworden. Unterdessen überlegte sie, in welcher Beziehung Katrin zu Werner gestanden hatte. Vergangene Nacht jedenfalls hatten beide so gut wie nichts miteinander geredet. Heidelinde konnte sich auch kaum vorstellen, dass
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