Glasklar
eine Streife gerufen wurde, deren Standortmeldung sich sogar als günstig erwies. Der Beamte von der Wache forderte sie auf, sofort die Steilstrecke Richtung Oberböhringen anzufahren und ein Taxi zu stoppen, das ihnen dort entgegenkam. »Habe klar«, erwiderte der Angesprochene und beendete das Gespräch.
»Da können wir ja gespannt sein, welchen Großkopfeten wir da treffen«, grinste Häberle und sah vor sich die noch dicke Mondsichel, die jedoch in der Linkskurve aus seinem Blickfeld wanderte.
24.
Heidelinde König hatte den ganzen Nachmittag und Abend über versucht, Sabine Braunstein telefonisch zu erreichen. Als sie vorige Nacht auseinandergegangen waren, hatten sie noch ihre Telefonnummern ausgetauscht und sich vorgenommen, in Kontakt zu bleiben. Dass Sabine nicht zu erreichen war, musste nichts zu bedeuten haben, beruhigte sich Heidelinde. Vielleicht wollte sie einfach mit niemandem reden.
Heidelinde hatte den Abend auf dem Balkon ihrer Wohnung verbracht, dem sommerlichen Konzert der Vögel gelauscht und sich gewundert, dass noch nach Einbruch der Dunkelheit ein Hubschrauber an der Albkante entlanggeflogen war.
Inzwischen trank sie das zweite Glas Wein und bemerkte, wie ihre Gedanken sich verselbstständigten. Einerseits quälte sie seit Monaten der ungewisse Ausgang der familiengerichtlichen Auseinandersetzung mit ihrem geschiedenen Mann, die der Familienrichter in Geislingen trefflich hinauszuzögern vermochte, andererseits war da die Sorge um Sabine, mit der sie sich vergangene Nacht bei der Heimfahrt ausführlich unterhalten hatte.
Auch wenn es schon spät war, wollte sie noch einen letzten Versuch unternehmen, Sabine zu erreichen. Sie drückte die Wahlwiederholung und war überrascht, als sich die Angerufene bereits nach dem zweiten Klingelton meldete.
»Entschuldige«, sagte Heidelinde zaghaft. »Es tut mir so leid.« Mehr fiel ihr nicht ein.
»Schon gut, aber danke, dass du anrufst.«
»Ich hab es schon ein paarmal versucht …«
»Wenn ich gewusst hätte, dass du das warst …«, unterbrach Sabine. »Aber ich brauchte meine Ruhe.«
»Ich wollte mich auch nur erkundigen, wie es dir geht und ob ich dir irgendwie helfen kann«, versuchte Heidelinde, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie holte tief Luft und spielte mit ihrer kleinen Lesebrille. Eine kühle Brise wehte durch die offene Balkontür herein. Sabine erzählte, welcher Schock es gewesen war, als sie am Vormittag vom Tode Werners erfahren hatte. Sie sei dem Notfallseelsorger unendlich dankbar. Zwei Stunden hätten sie miteinander geredet und dann auch den Sohn aus Werners geschiedener Ehe ausfindig gemacht. Der sei inzwischen aus dem Raum Frankfurt angereist, habe aber schon seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater gehabt.
»Und zu seiner Mutter?«, fragte Heidelinde vorsichtig nach.
»Angeblich auch nicht mehr. Sie hat sich einen neuen Lover zugelegt und lebt vermutlich irgendwo am Atlantik, in Frankreich, unweit der spanischen Grenze. ›Les Landes‹ oder so ähnlich heißt die Gegend, bei Biarritz.«
»Hast du mit seinem Sohn schon gesprochen?«
»Nur am Telefon«, kam es unterkühlt zurück. »Ich kenn ihn doch überhaupt nicht. Er will morgen bei mir vorbeikommen … Ich werde ein paar Tage freinehmen.«
Heidelinde überlegte, ob sie ansprechen sollte, was ihr auf den Nägeln brannte. Dann entschied sie sich: »Sag mal …« Noch eine kurze Pause. »Kannst du dir vorstellen, wer das getan hat?«
»Was glaubst du, was ich mir seit heut Vormittag überlege?« Sie sprach schnell. »Auch die Kripo fragt mich das. Und erst jetzt wird mir bewusst, wie wenig ich eigentlich von Werner weiß.«
»Ihr kennt euch seit August?«
»Seit August, ja, aber wie ich dir sagte, wir haben in die Zukunft geblickt – nicht in die Vergangenheit.«
Heidelinde sah in die Dunkelheit hinaus, wo sich die Hänge der Alb tiefschwarz erhoben und wie eine Wand vor ihr standen. »Ihr habt euch beide mit eurem Protest gegen die Eisenbahn unbeliebt gemacht«, bemerkte sie.
»Unbeliebt? Wer es nicht wagt, sich unbeliebt zu machen, wird nie was bewegen. Oder er bleibt angepasst – ein Leben lang. Werner hat immer gesagt, ›Jedermanns Liebling ist jedermanns Depp‹.«
»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Heidelinde. Sie hatte mit Werner zwar nicht viel zu tun gehabt, aber seine Einstellung bei den wenigen Gesprächen, die sie geführt hatten, durchaus kennengelernt. »So jemand hat Feinde …«
»Ich bitt dich, Heide«,
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