Glasscherbenviertel - Franken Krimi
deswegen glaubt er auch bis heute, sich in alles einmischen zu können.« Plötzlich begann ihr Sohn auf ihrem Schoß zu weinen. »Was ich Ihnen erzählt habe, muss unbedingt unter uns bleiben. Mein Onkel darf keinesfalls erfahren, dass ich mit Ihnen gesprochen habe. Er regt sich sowieso schon auf, weil ich mich von meinem Mann scheiden lassen will. Ich habe Angst, dass er mir etwas antut, wenn er erfährt, was ich Ihnen gesagt habe.« Sie beugte sich vor und nahm den Butterkeks, den die Schreibkraft ihrem Sohn hinhielt, um ihn wieder zu beruhigen.
»Gibt es einen Grund für die Annahme, dass er Ihnen gegenüber gewalttätig werden könnte?«
Sie sah Hackenholt lang an, senkte aber am Ende den Kopf und gab keine Antwort.
»Frau Ünlü, das ist ein sehr ernstes Thema. Sie wissen, dass es diverse Hilfsangebote gibt – auch vonseiten der Polizei, nicht wahr? In der Zeughauswache neben dem City Point ist die Polizeiberatung untergebracht. Die Kolleginnen und Kollegen dort sind mit ähnlich gelagerten Problematiken gut vertraut und können Auswege aufzeigen. Gerade wenn es um häusliche Gewalt geht, gibt es Möglichkeiten, wie die Polizei helfen kann.«
Nach dem Gespräch brachte Hackenholt die junge Frau und ihren Sohn zunächst zum Erkennungsdienst, um dort ihre Fingerabdrücke als Vergleichsspuren einscannen zu lassen. Dann begleitete er die beiden hinunter zur Pforte am Jakobsplatz. Damla Ünlü wollte, da sie nun schon mal in Nürnberg war, noch ein bisschen mit ihrem Sohn durch die Stadt bummeln. Als Hackenholt in sein Büro zurückkam, saß Stellfeldt an seinem Schreibtisch und überflog das Vernehmungsprotokoll.
»Ein Ehrenmord in Nürnberg? Hältst du das für möglich?«
Hackenholt sah seinen Kollegen überrascht an. »Du etwa nicht?«
»Na ja«, druckste er herum. »Doch. Wahrscheinlich schon. Wenn ich daran denke, was mir die Petra von der Polizeiberatung im Sommer erzählt hat, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, dass so etwas auch bei uns passiert. Die Beamten dort unterstützen regelmäßig die eine oder andere Hilfesuchende, die sich aus Angst vor Repressalien vor ihrer Familie verstecken muss.«
»Eigentlich ist es ja der absolute Wahnsinn, was sich da im Namen der sogenannten Familienehre alles abspielt. Allerdings dachte ich bisher, dass bei Ehrenmorden normalerweise Frauen die Opfer sind.«
»Das ist nicht zwingend der Fall. Manchmal werden auch junge Männer umgebracht – oder gleich beide Partner.« Stellfeldt fuhr sich wieder einmal gedankenverloren über die Glatze.
»Mal bloß nicht den Teufel an die Wand, Manfred. Damla Ünlü hat sich gerade ganz ähnlich geäußert.«
»Warten wir es ab. Jedenfalls würde ein Ehrenmord auch die rasende Wut erklären, mit der der Täter in der Wohnung vorgegangen ist. Wir müssen unbedingt herausfinden, wo sich Rojin Barzani aufhält.«
Hackenholt nickte. »Sie ist eine wichtige Zeugin für uns. Wir könnten versuchen, sie über das LKA und die Kollegen in der Türkei ausfindig zu machen. Nachdem die Verwandten, bei denen sie sich angeblich aufhält, kein Telefon haben sollen, muss jemand von den dortigen Behörden sich davon überzeugen, dass es ihr gut geht, und dafür sorgen, dass sie sich umgehend mit uns in Verbindung setzt.«
»Soll ich mich darum kümmern?«, fragte Stellfeldt.
»Das wäre prima. Ich würde heute ganz gern ein bisschen früher gehen, nachdem Sophie sicher noch einen Berg für morgen einkaufen muss und sie heute Morgen ziemlich wackelig auf den Beinen war.«
»Aber wenn es ihr nicht gut geht, muss sie sich doch nicht den Stress mit dem Nikolausessen antun.«
Hackenholt lächelte. »Für Sophie ist Kochen kein Stress. Ganz im Gegenteil, dabei kann sie sich nach Herzenslust ausleben. Ich glaube, sonst hätte sie ihren Partyservice schon längst aufgegeben.«
Statt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren, nutzte Hackenholt das ausnahmsweise mal schöne Winterwetter für einen Spaziergang heim in die Meuschelstraße. Kurz überlegte er, ob er durch die Altstadt gehen und einen Abstecher über den Christkindlesmarkt machen sollte, um sich dort Drei im Weggla zu gönnen, entschied sich dann jedoch dagegen. Die Innenstadt war gnadenlos überfüllt, wahrscheinlich würde er nur im Schneckentempo vorankommen. Zu dieser Jahreszeit strömten einfach zu viele Touristen durch die fränkische Metropole und verstopften die Fußgängerzone – auch unter der Woche.
Also schlug der Hauptkommissar den Weg zum
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