Glasscherbenviertel - Franken Krimi
versucht, Sie telefonisch zu erreichen, aber offenbar haben Sie Ihr Handy ausgeschaltet. Frau Ünlü, wir müssen dringend noch einmal mit Ihnen reden.«
»Warum?«
»Seit unserem letzten Gespräch haben sich eine Menge neuer Fragen ergeben.«
»Ich habe Ihnen doch gestern bereits gesagt, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.«
»Aber wir haben in der Zwischenzeit neue Erkenntnisse gewonnen, die auch Sie betreffen. Wenn Sie nicht möchten, dass wir uns in Ihrer Wohnung unterhalten, können wir gern ins Präsidium nach Nürnberg fahren.«
Sie warf einen raschen Blick die Hausfassade hinauf. Hinter den Fenstern rührte sich nichts. »Gut, dann eben in Nürnberg. Kian muss aber mitkommen, ich habe niemanden, der auf ihn aufpasst.« Sie wies auf ihren Sohn.
»Kein Problem.« Hackenholt nickte.
»Frau Ünlü, Sie haben uns gestern nicht die Wahrheit gesagt«, konfrontierte der Hauptkommissar die junge Deutschtürkin mit den ermittelten Fakten, nachdem sie in seinem Büro Platz genommen hatte. Ihr kleiner Sohn saß auf ihrem Schoß und knabberte an einem Butterkeks, den ihm die Schreibkraft gegeben hatte, die die Vernehmung protokollierte. »Sie hatten mit Ihrem Bruder auch noch nach dem 6. November Kontakt. Als wir seine Telefonkontakte ausgewertet haben, haben wir festgestellt, dass Sie mit ihm bis zum 15. November so gut wie täglich telefoniert und sich gegenseitig SMS geschickt haben.«
»Papa darf davon nichts erfahren. Er wäre sehr wütend auf mich, weil ich mich nicht an seine Verbote gehalten habe.«
»Frau Ünlü, Ihr Bruder wurde umgebracht. Es muss doch auch in Ihrem Interesse sein, dass wir denjenigen finden, der das getan hat. Aber dazu haben wir nur eine Chance, wenn Sie uns die Wahrheit sagen.«
Die junge Frau rieb ihre Wange am Kopf ihres Sohnes, der sich daraufhin zu ihr umdrehte und sie anschaute. Schließlich nickte sie mit einem Seufzer.
»Dann noch einmal: Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?«
»Eine Woche nach Kurban Bayrami. Bülent ist nur mir zuliebe zu dem Opferfest nach Hause gekommen. Er wusste, dass Onkel Köksal mit seiner Familie dabei sein würde. Die beiden haben sich nie verstanden. Unser Onkel ist wesentlich strenger und traditioneller als unser Vater, aber immer, wenn Köksal da ist, eifert Papa ihm nach. Bülent hat das gehasst. Vor allem nachdem er seine Arbeit bei der Spedition gekündigt hatte, hatte er große Angst, nach Hause zu kommen. Ich habe ihn immer zu beruhigen versucht und gesagt, dass in der Familie niemand etwas davon weiß.«
»Können Sie mir sagen, wie es zu der Kündigung kam?«, hakte Hackenholt sofort nach. Die Version, die Bülent Alkan seiner Schwester aufgetischt hatte, interessierte ihn.
»Bülent ist klar geworden, dass er sein Leben nicht so hätte leben können, wie er es sich immer vorgestellt hat, wenn er hiergeblieben wäre. Also wollte er mit Rojin weggehen. Wohin, hat er mir nie verraten. Er sagte, es sei für mich am besten, wenn ich so wenig wie möglich wüsste.« Sie ließ ihren Sohn, der in ihren Armen heftig zu zappeln begonnen hatte, los, sodass er von ihrem Schoß rutschen und zur Schreibkraft an den Computer laufen konnte. »Verstehen Sie? Deswegen habe ich auch keinen Verdacht geschöpft, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, als ich ihn auf dem Handy nicht mehr erreicht habe. Immer wieder hat er gesagt: ›Eines Tages werde ich weg sein. Mein Handy lasse ich hier, du kannst mich dann nicht mehr kontaktieren, aber ich werde mich bei dir melden.‹ Als ich das letzte Mal bei ihm war, um ihm die Haare zu schneiden, hat er ein paar Andeutungen gemacht, dass es bald so weit sein würde.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, weil sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Sofort kam ihr Sohn zu ihr zurückgelaufen und drückte sich an sie, bis sie ihn wieder auf den Schoß hob. »Als mein Bruder auf meine letzte SMS nicht mehr geantwortet hat, rief ich ihn an, aber diese Tonbandstimme sagte nur, dass der Teilnehmer nicht erreichbar ist. Also habe ich es unter Rojins Nummer versucht, aber auch da ging niemand ran. Ich war mir sicher, dass die beiden ihren Plan in die Tat umgesetzt hatten.«
Hackenholt schwieg einen Augenblick. »Waren Ihr Bruder und Rojin Barzani verlobt?«
»Machen Sie Witze? Hätte jemand davon erfahren, dass sie sich auch nur treffen, wäre schon ein Unglück geschehen.« Sie schluchzte laut auf. »Und genau dazu ist es ja gekommen: Jemand hat es herausgefunden. Ich habe Rojin wieder
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