Glasscherbenviertel - Franken Krimi
Freund immer in seinem Briefkasten versteckt hat. Sie ist sich absolut sicher. Sie hat nie einen eigenen zu seiner Wohnung besessen – das wäre viel zu gefährlich gewesen, denn ihr Vater oder einer ihrer Brüder hat von Zeit zu Zeit ihre Taschen kontrolliert. Außerdem ist an dem Schlüssel ein geflochtenes Bändchen aus dunkelbraunem Leder – so wie bei dem, der im Briefkasten versteckt war.«
»Mit anderen Worten, sie hat uns angelogen: Sie hat ihn gar nicht zurückgelegt, sondern eingesteckt. Warum?«
»Ich denke nicht, dass sie absichtlich gelogen hat. Sie sagt, sie kann sich nicht mehr erinnern, was passiert ist, nachdem sie ihren Freund tot in der Wohnung hat liegen sehen. Sie weiß nur noch, dass sie Panik gekriegt hat und möglichst schnell möglichst weit weg wollte. Erst am Bahnhof hat sie wieder etwas klarer denken können und sich überlegt, zu wem sie flüchten könnte.«
»Einerseits will sie panisch weggerannt sein, andererseits hat sie ihr Handy ausgeschaltet, die Wohnung abgesperrt und den Schlüssel eingesteckt? Das passt in meinen Augen nicht zusammen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass das Reflexe waren und sie unbewusst gehandelt hat. Bülent hatte ihr stets eingeschärft, man könne sie anhand ihres Handys finden, also hat sie es ausgeschaltet.«
»Und die abgesperrte Tür? Jeder normale Mensch wäre einfach ins Treppenhaus gerannt und hätte um Hilfe geschrien.«
»Sie hatte Todesangst, vergiss das nicht. Für sie steht fest, dass ihre eigene Familie ihren Freund umgebracht hat und sie an diesem Tag ebenfalls hätte sterben sollen. Sie wusste nicht, dass die deutsche Polizei ihr glauben und helfen würde. Du hast doch selbst gesehen, wie verängstigt sie war, als wir sie zur Dienststelle mitgenommen haben. Und zu Hause wurde ihr immer eingetrichtert, die Tür ordentlich abzusperren, bevor man das Haus verlässt. Solche Handlungen führt man meistens unbewusst aus. Dir ist es doch sicher auch schon passiert: Du stehst im Supermarkt und überlegst, ob du das Auto abgesperrt hast.«
»Aber warum hat sie den Schlüssel dann erst jetzt gefunden?«
»Sie hat sich noch im Hauptbahnhof umgezogen und das T-Shirt und die Hose, die sie anhatte, zusammengeknüllt, ganz unten in ihre Reisetasche gesteckt und seither nicht mehr angerührt.«
»Da, schon wieder! Sie hat ihre Kleidung gewechselt – das ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass sie nicht so panisch war, wie sie uns weismachen will.«
»Ich glaube, da liegst du falsch. Ihr ganzes Denken war darauf gerichtet, unerkannt zu flüchten. Auch ihr Ticket hat sie sich unbewusst gekauft. Erinnerst du dich? Als du sie gefragt hast, woher sie ihre Fahrkarte hatte, wusste sie es nicht mehr. ›Wahrscheinlich habe ich sie am Automaten geholt, so wie immer‹, hat sie gesagt.«
Hackenholt seufzte. »Trotzdem: Stell bitte ihre Kleidung sicher und schick sie uns zu. Die Kriminaltechnik muss sich die Sachen anschauen. Außerdem brauche ich ein ausführliches Protokoll über alles, was du mir gerade erzählt hast. Und sag Rojin, dass einer von uns in den nächsten Tagen noch einmal mit ihr sprechen muss.«
»Du glaubst ihr nicht, oder?«
»Ich weiß im Moment beim besten Willen nicht, was ich von der Geschichte halten soll.«
»Aber sie hätte doch keinen Vorteil davon, wenn sie uns angelogen hätte. Es muss einfach stimmen.«
Hackenholt vergrub das Gesicht in den Händen. Ein weiteres Puzzleteil war aufgetaucht. Wenn nun auch noch Köksal Aguzüms Alibi stimmte, würden sie wieder ganz am Anfang stehen. Verdammt! Mit einem Ruck griff er zum Telefonhörer und wählte Wünnenbergs Handynummer.
»Wie weit seid ihr mit der Überprüfung? Kannst du schon etwas sagen?«
»Die Nachbarn in der Adam-Klein-Straße haben angegeben, dass die Familie an besagtem Tag ausgezogen ist. Von den Uhrzeiten her dürfte Aguzüms Alibi stimmen. Danach sind wir nach Röthenbach gefahren und haben mit der Familie selbst geredet. Sie haben das Alibi ebenfalls bestätigt – allerdings sind sie Mitglieder seiner Gemeinde. Er soll sich bereit erklärt haben, sie bei ihrem Umzug als Fahrer zu unterstützen. Ein Teil der Leute scheint den Transporter vollgeladen zu haben, mit dem Aguzüm dann nach Röthenbach gefahren ist, wo er von anderen Helfern ausgeräumt wurde. Insgesamt sind sie mit fünf Autos gependelt.«
»Hatte Aguzüm während der Fahrten eine Begleitung?«
»Wie es aussieht, nicht immer, aber das versuchen wir gerade abzuklären. Allerdings müssen wir dazu
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