Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
nicht.
Sie sah sich um. Der Raum bot einen bunten Schnitt durch alle möglichen Epochen. Das Sofa, auf dem sie lag, sah aus, als wäre es ein Fossil aus dem dritten Reich, während sie das Alter der Schränke und Truhen um drei-, vierhundert Jahre weiter zurückdatierte. Das Zimmer beherbergte ein wildes, ungeordnetes Sammelsurium an Krempel, der schwer an Sperrmüll erinnerte.
Dicht neben ihr bewegte sich jemand geschäftig. Langsam wandte sie den Kopf zu der Person im Raum. Amadeo war es nicht, sein Geruch fehlte in der Luft.
Ein großer, breitschultriger Mann stand mit dem Rücken zu ihr. Seine blonden Haare stachen in alle Richtungen ab. Er trug einen ausgeleierten, grauen Wollpulli und ausgebeulte, giftgrüne Hosen. Ein Nietengürtel hing in einer Schlaufe. Ketten klirrten leise gegeneinander.
Sie hörte, wie er Flüssigkeit umfüllte. Langsam drehte er sich um.
Wie gebannt hing ihr Blick an der Tasse, in der Kräutertee dampfte, auch wenn sie bezweifelte, überhaupt den Mund öffnen zu können, weil ihre Zunge wie ein trockener, geschwollener Klumpen Fleisch am Gaumen klebte. Gier erwachte. Für diesen Becher hätte sie freiwillig jemanden getötet. Da der Mann näher kam und sich an ihre Seite setzte, war ein Mord nicht notwendig. Allerdings ließ er sich übermäßig viel Zeit, was Groll entfachte. Enttäuscht sah sie zu der Tasse, die er immer noch in einer Hand hielt, während er sich mit der anderen neben ihrem Kopf auf dem Kissen abstützte.
»Wieder wach?«
Seine Fröhlichkeit wirkte deplatziert, oder? Camilla wünschte sich, antworten zu können, aber bis auf ein unartikuliertes Krächzen brachte sie keinen Laut hervor.
»Kannst du dich aufsetzen?«
Sie wandte den Kopf und sah zu seiner Hand, an der sie sich schwer vorbeischieben konnte.
»Entschuldige«, murmelte er schuldbewusst und richtete sich auf.
Camilla drückte sich mühsam hoch. Die Decke rutschte über Schultern und Brust hinunter. Sehnsüchtig streckte sie beide Hände nach der Teetasse aus, doch der junge Mann regte sich nicht. Sein Blick klebte an ihrem nackten Busen. Unsanft stieß sie ihn an und fischte nach der Tasse. Er bewegte sich immer noch nicht. Camilla presste die Lippen aufeinander. Sie spürte die Risse. Hautschüppchen rieben unangenehm unter ihrem Lippenpiercing . Sie griff nach dem Tee und der Fremde öffnete anstandslos die Finger. Gierig setzte sie an.
So sehr sie sonst Kamille hasste, so köstlich schmeckte der erste Schluck. Die Feuchtigkeit löste nicht nur die Dürre, sondern erweckte ihren Kopf zum Leben. Mit halb geschlossenen Augen leerte sie die Tasse und atmete tief durch.
»Mehr?«, fragte er, wobei er krampfhaft in ihre Augen sah.
Sie nickte. »Gern«, flüsterte sie heiser.
»Aber nicht zu viel, sonst bekommst du später ziemliche Krämpfe.« Seine Stimme hatte einen warmen, freundlichen Klang.
Camilla betrachtete ihn zum ersten Mal mit stärkerem Interesse. Zuvor war ihr der Tee wichtiger gewesen. Seine großen Augen leuchteten fröhlich in dem fast kindlich breiten, gutmütigen Gesicht. Vielleicht waren es auch der große Mund mit den vollen Lippen oder die geröteten Wangen, die den Eindruck von Jugend erweckten. Sie schätzte ihn nicht älter als Anfang zwanzig. Er war nicht klassisch schön, aber seine freundliche Natur strahlte über sein Aussehen hinaus. Er erhob sich und drehte sich von ihr weg.
Als er wieder zu ihr trat, deutete er auf ihren nackten Oberkörper. »Zu warm?«
Camilla folgte seinem Blick, der sich ohne Umschweife wieder an ihren Brüsten festgesaugt hatte. Sie hob demonstrativ eine Braue und deutete auf die Tasse. Er lächelte frech und reichte sie ihr.
»Danke.« Ihr Hals fühlte sich noch immer rau und trocken an.
Sie leerte auch die zweite Tasse. Langsam erholte sie sich ein wenig. Durch den Tee angeregt knurrte nun auch ihr Magen.
Sein Lächeln verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Hunger«, stellte er fest.
»Redest du auch in ganzen Sätzen?«
»Schon«, antwortete er. »Allerdings passiert es selten, dass nackte Mädchen auf meinem Sofa liegen und sich nicht daran stören, dass ich sie anstarre.«
Camilla hob die Decke und zog sie über ihre Brüste. »Besser?«
»Ja.«
»Wer bist du eigentlich?« Sie umschlang ihre Beine und spähte durch ein Fenster, vor dem eine Gardine hing, nach draußen. Erkennen konnte sie nicht viel, weil der Vorhang den Staub von mindestens hundert Jahren in sich trug.
»Chris, eigentlich Christoph«, entgegnete er.
Camilla
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