Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
erinnerte sich schwach an den Namen. Amadeo hatte ihn gerufen, als sie das Bewusstsein verlor.
»Dann bin ich wirklich unterhalb von Berlin?«
Er nickte ernst. » Ancienne Cologne nennt sich der Ort.«
»Dass es tatsächlich so etwas gibt«, murmelte sie. »Eine Stadt unter der Stadt, tief verborgen in einem Labyrinth.«
»Aus deinem Mund klingt das ziemlich romantisch.« Christophs Gesicht hatte jedes Lächeln verloren. »Das ist es nicht. Hier unten leben die, die sich oben nicht zurechtfinden, oder die, die hier geboren wurden.«
»Dann ist es ein Zufluchtsort.« Sie hoffte, aufmunternd zu klingen.
»Zuflucht?« Seine Lippen verzogen sich spöttisch. »Vielleicht.«
»Du bist hier nicht glücklich.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin hier geboren, lebte aber zwölf Jahre oben.« Er zögerte. »Dort bin ich so wenig zu Hause wie hier.« Seine Stimme klang bitter. Er sah aus wie einige Punks, die sie kannte. Eindeutig ein Außenseiter, aber scheinbar nicht nur oben, sondern auch hier.
»Gibt es viele Menschen in Ancienne Cologne?«
»Einige«, antwortete er ausweichend.
»Amadeo sagte, er sei der Herr hier.« Sie wollte so viel mehr erfahren, spürte aber, dass Chris dabei war, sich zu verschließen.
»Ist er auch. Als meine Mutter starb, habe ich die ersten sechs Jahre hier unten bei ihm gelebt.«
»Und weiter?«
»Ich wurde zu Verbindungsleuten an die Oberfläche gegeben und adoptiert. Weil ich immer wieder abgehauen bin, haben sie mich schließlich in ein Erziehungsheim gesteckt.« Er grinste. »Die konnten mich auch nicht halten. Nach ein paar Jahren auf der Straße lebe ich zwar wieder hier, bin aber auch nicht glücklicher.« Er zuckte mit den Schultern.
Anscheinend wollte er nicht weiter darüber reden. Camilla sah zwar sein Lächeln, doch ihr entgingen seine ernsten Augen nicht. Sie las in ihnen wie in einem Buch. Chris war ihr auf Anhieb sympathisch. Sie verstand seine Rastlosigkeit sogar.
»Warum bleibst du nicht oben?«
»Das ist meine Sache.« In seinen Augen glomm ein Funke auf, der seine Worte entkräftete. »Vielleicht stehe ich ja darauf, kleine Mädchen hier unten durch die Gegend zu tragen.« Er grinste breit.
»Spinner!« Ihr Magen knurrte. »Hunger«, murmelte sie.
»Wie war das?« Chris lachte. »Kannst du auch in ganzen Sätzen reden?«
Camilla sah ihn vorwurfsvoll an und schlug ihm mit der Faust auf den Oberarm. »Idiot! Ich habe seit gestern oder vorgestern nichts mehr gegessen.«
»Dann sag das doch … in ganzen Sätzen.«
Camilla saß neben Chris an einem klapprigen Campingtisch, vor ihr stand ein inzwischen leerer Teller. Sie pickte die letzten Brotkrümel mit den Fingerspitzen auf und leckte sie genüsslich ab.
Nie hätte sie gedacht, dass Schwarzbrot mit Nutella so lecker sein könnte. Wie alles in Chris’ Wohnung passte auch kein Teller zum anderen. Die Trinkgefäße bestanden aus Ton, Porzellan, Plastik, Pressglas und Bleikristall. Allerdings hatte jedes Stück seinen Platz und seine Daseinsberechtigung. Normalerweise hätte sie sich wohl daran gestört, dass nichts zueinandergehörte , aber im Rahmen dieses alten Hauses und mit dem Hintergrund, dass Chris nicht viel anders aussah, störte es sie nicht mehr.
Sie trug ein ausgewaschenes Shirt von ihm und die dicksten Socken, die sie je gesehen hatte.
»Sag mal, was kannst du mir über den Sandmann erzählen?«, fragte sie unvermittelt.
Er sah sie aus dem Augenwinkel an und rutschte umständlich auf der Sitzfläche seines Stuhls zu ihr herum. »Amadeo sagte mir schon, dass Er dich jagt«, antwortete er ernst.
Einen Augenblick dachte sie an Grimm. Mit ihm verband sie Boshaftigkeit und Mordgier. Schließlich hatte er sie wie ein Tier gehetzt. Sie ertappte sich dabei, in dem Mörder kein gestaltloses Ungeheuer zu sehen. Grimm war eine ernst zu nehmende, reale Gefahr. Um Christophs Worte zu entkräften, rollte sie mit den Augen. »Sei nicht so schwerfällig.« Sie schnaubte. »Das sagte er mir auch. Aber was ist der Sandmann?«
Chris fuhr sich durch seine wirren Haare und stützte den Kopf in die Hand. »Er ist ein Mörder. Er tötet Frauen, um ihnen die Augen herauszuschneiden.«
»Das Geschöpf, was ich gesehen habe?«
Ihre Stimme brach. Ein Stich bohrte sich in ihr Herz. Die Tote, die sie gefunden hatte, kam ihr in den Sinn, ebenso Theresa, die vielleicht auch hier herumirrte und ein leichtes Opfer abgab. Für einen Moment wollte die Sorge um ihre Freundin sie ersticken. Was, wenn der Sandmann – oder
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