Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
»Versetz dich mal in ihre Eltern hinein. Wie würdest du reagieren?« Die Frage war rhetorisch. Chris reagierte auch nicht. »Dann kommen Anklagen, Ausbrüche, Trauer … Darüber will ich nicht nachdenken. Ich habe Theresas Tod noch nicht einmal begriffen, geschweige überwunden. Damit wird alles nur noch …«
»Du kennst die Konsequenzen, also kannst du dich auch darauf einlassen, Camilla.« Melanies Stimme war nicht laut, aber ihre Worte rissen sie zurück. »Du bist ein starker Mensch. Das, was kommt, ist unvermeidlich. Und allein bist du nicht. Deine Eltern, Christoph und ich stehen dir bei.«
Melanie klemmte ihre Zigarette zwischen die Lippen. »In den nächsten Tagen bin ich hier. Du kannst immer vorbeikommen.«
»Warum bist du hier?« Die Frage rutschte Camilla heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte.
Melanie blinzelte irritiert. »Ich habe Urlaub. Die Situation war günstig, neue Medikamente hierher mitzubringen.« Sie setzte sich neben Camilla und umarmte sie fest.
Chris tat es ihr gleich.
Die liebevolle Nähe verdrängte die düsteren Gedanken. Chris’ leiser Aufschrei rief ihr in Erinnerung, was sie gerade erlebt hatten. Sofort zuckte sie zurück. Camilla hatte versehentlich in seine Schürfwunde gegriffen.
»Entschuldige!«
Melanie erhob sich und trat zu der Feuerstelle. Sie warf die Zigarette in die Flammen. »Darum kümmere ich mich gleich.«
Amadeos langsame, schwere Schritte jagten Camilla einen Schreck ein. Der typische Geruch nach Alter wehte ihm voraus. Sie sprang auf. Im ersten Moment wollte sie vor ihm weglaufen.
»Was hast du?« Melanie trat besorgt auf sie zu.
»Amadeo …« Sie spähte an der Ärztin vorbei. Ihr Herz schlug schmerzhaft hart. »Ich traue ihm nicht mehr.«
Behutsam drückte Melanie sie auf die Bank zurück. »Er ist doch nur ein alter Mann, der keinem schaden will.« Aufmunternd lächelte die Ärztin.
Camilla deutete ein Kopfschütteln an. »Keinem schaden?«
»Alles was er macht, geschieht im Sinn der Gemeinschaft Ancienne Colognes . Er ist das Herz dieser Stadt.«
Camillas Zweifel wankten, aber sie ließen sich nicht vollends abschütteln. Für einen Augenblick spürte sie sanfte, dunstige Nebel, die sich in ihr Bewusstsein einnisteten. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Es fühlte sich fast an, als wollte Grimm ihr Bewusstsein infiltrieren. Eine Woge Übelkeit drückte ihren Magen hoch. Rasch verdrängte sie den Gedanken. Sie begriff, weshalb Melanie Amadeo vertraute. Er handelte im Sinn der Stadt. Aber das war kein Grund, dass die Ärztin dem alten Mann vorbehaltlos Glauben schenkte.
Wenn sie Antworten haben wollte, musste sie bleiben und Amadeo Fragen stellen. Schließlich war sie nicht allein. Chris teilte ihre Zweifel. Er blieb ruhig. Langsam entspannte sich Camilla.
Hinter Amadeo nahm sie die leichten Schritte einer weiteren Person wahr. Als hinter dem Greis eine der Uhrwerkfrauen die Küche betrat, konnte sie dank des schlechten Lichts nicht klar sagen, ob es sich um Olympia oder Amelie handelte. Erst als die Puppe neben ihn trat, erkannte Camilla das kurze Kleid und die Hosen wieder.
Melanie Wallraf sah kurz über die Schulter, widmete sich dann aber Chris, der mehr Blessuren davongetragen hatte als angenommen.
Erschrocken registrierte Camilla das Buch, das Amadeo unter dem Arm trug. Durch Melanies Ankunft hatte sie es in dem Versteck unter der Treppe vollkommen vergessen.
Amadeo ging langsam weiter, bis er den Tisch erreichte. Dort legte er den Folianten ab und suchte sich an der Wandseite einen Platz. Er schien um weitere hundert Jahre gealtert zu sein. Das böse Gefühl, dafür verantwortlich zu sein, ließ sich nicht verdrängen. Auch wenn sie ihn immer noch fürchtete, tat er ihr zugleich leid.
Dennoch wären viele Sachen nicht passiert, wenn er von Anfang an mit offenen Karten gespielt hätte.
Amelie trat näher. Sie betrachtete Chris mit einer Mischung aus mütterlicher Sorge und Ärger. Er ignorierte sie. Brüsk drehte sie sich zu der Kochstelle um und spähte in den Wasserkessel.
»Brauchst du das hier noch?« Melanie schüttelte den Kopf. »Die Wunden sind alle gesäubert.«
Mit neuerlicher Sorge wies Amelie auf Christoph »Sind die Verletzungen schlimm?«
Verärgert richtete er sich auf. Bevor er etwas sagen konnte, stieß Camilla ihn an. »Still!«
Melanie überging die Szene. Sie schüttelte den Kopf. »Schürfwunden, Kratzer, blaue Flecken. Sie tun weh, sind aber vernachlässigbar.«
Amadeo stieß einmal unwirsch mit
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