Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
Tischkante.
»Ist alles okay?« Chris streichelte ihr über den Rücken. Camilla zuckte zusammen. Von einem Augenblick zum anderen ließ der Druck, der sich in ihr aufgebaut hatte, nach.
Amadeo und Hoffmann verschwammen erneut in ihrer Vorstellung zu einer Person. Wie sich der Alte am Leben hielt, konnte sie nicht nachvollziehen. Trotz allem schwanden ihre Zweifel. Er wusste zu viel, um nicht Hoffmann zu sein. Sie presste die Kiefer aufeinander. Früher oder später würde sie sein Geheimnis aufdecken!
»Es geht wieder«, entgegnete sie.
Melanie hob fragend die Brauen. »Habe ich was verpasst?«, fragte sie zweifelnd, wobei sie automatisch nach Chris’ gut geleertem Tabakbeutel griff.
»Drehst du mir auch eine?« Chris sah sie flehend an.
Sie nickte knapp.
»Scheinbar bin ich wohl in der Schuld, zu erzählen«, sagte Amadeo.
Er führte ein gut einstudiertes Stück auf. Camilla presste die Lippen aufeinander. Diese linke Ratte! Er hatte sich offenbar längst darauf vorbereitet, irgendwann mit der Wahrheit herausrücken zu müssen. Es ärgerte sie, dass er ihnen immer einen Schritt voraus war. Allein seine selbstsichere Borniertheit ging ihr so sehr auf die Nerven, dass sie ihm am liebsten alles ungefiltert an den Kopf geworfen hätte, was ihr auf der Zunge lag. Sie verkniff sich jeden Kommentar. Die Chancen standen sehr gut, dass er anschließend gar nichts mehr sagte.
Mit übertrieben gekünstelter Stimme wandte er sich an Melanie. »Vor etlichen Stunden gab ich den beiden Schlauköpfen alte Aufzeichnungen von mir, die sie lesen sollten. Damit sind sie mir natürlich wesentlich näher gekommen, liebe Melanie.«
Camilla verengte die Augen zu Schlitzen. Dieser Mistkerl nutzte natürlich die Situation zu seinen Gunsten. Rhetorisch war er unschlagbar. Aber was erwartete sie? Sie knirschte mit den Zähnen. Melanie schien das nicht zu entgehen, denn sie sah an Chris vorbei zu ihr.
»Die Blöße, die ich mir damit gegeben habe«, er legte seine Hand demonstrativ auf das Buch, »musste früher oder später meinen eigentlichen Namen ins Spiel bringen.«
»Der wäre?«, fragte Melanie nun scharf.
Chris riss erstaunt die Augen auf.
»E. T. A. Hoffmann.« Genugtuung durchflutete Camilla. Angriffslustig krallte sie ihre Nägel in das Holz der Tischplatte. Etwas in ihr wollte Amadeo die Show stehlen. Der Blick, den der alte Mann ihr zuwarf, sprühte vor Zorn.
Melanie hob die Brauen. Sie ließ die beiden Zigaretten sinken und stützte sich auf der Tischplatte ab. Sie lachte humorlos auf.
»Hoffmann? Er ist 1822 gestorben.«
Camilla bemerkte, dass es ein Fehler gewesen war, zu antworten. Melanie hätte Amadeo sicher geglaubt, aber ihr? Ihr fehlte das notwendige Charisma.
»Fräulein Naseweis hat recht!« Amadeo nickte bekräftigend. »Ich bin Ernst Theodor Amadeus Hoffmann.«
Ungläubig schüttelte Melanie den Kopf. »Jetzt seid ihr beide verrückt geworden! Ihr verladet mich gerade, oder?«
Sekunden verstrichen, in denen niemand sprach. Camilla kribbelte es in den Fingern, sich zu rechtfertigen. Trotz allem beherrschte sie sich. Es gab einfach keine Beweise. Die einzige Person, der Melanie möglicherweise Glauben schenkte, wäre Amadeo.
Christoph brach das Schweigen. »Es stimmt, Melanie. Hier hast du Hoffmann und sein Geschöpf.« Der Ernst, mit dem er sprach, jagte Camilla einen Schauder über den Rücken. Sogar Melanie schien zu spüren, dass Chris die Wahrheit sagte. Sie zögerte. Trotz allem schüttelte sie den Kopf.
»Unmöglich. Niemand lebt 236 Jahre. Er ist 1822 an den Folgen der Syphilis gestorben.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. In ihrer Stimme schwang aufgesetzte Sicherheit mit.
Amadeo lächelte hintergründig. »Liebe Melanie, du weißt, dass es für mich kaum Grenzen gibt. Weshalb sollte der Tod ein abschließendes Ende sein?«
Melanie schnappte nach Luft. »Ich bin Psychotherapeutin und Ärztin. Eigentlich sollte ich beurteilen können, wann ein menschlicher Körper und ein Geist zerfällt.«
Amadeo zuckte zurück.
Obwohl Camilla klar war, dass ihre Freundin nur versuchte, sich zu schützen, bewunderte sie Melanies Logik, mit der sie Amadeo erschütterte.
»Der Sandmann hat uns gerade eben durch die Höhlen unter dem Haus gejagt.« Chris erhob nicht einmal die Stimme.
»Du drehst also auch durch?«, fragte Melanie leise. »Macht euch dieser Frauenmörder so konfus?«
»Das ist kein blöder Scherz, sondern verdammter Ernst!« Camilla stand auf und löste ihre Hand aus
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