Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
der Spitze seines Stocks auf den Boden. Camilla zuckte zusammen. Sie verabscheute seine Art.
»Was habt ihr dort unten gemacht?« Seine Stimme schnitt durch die Stille. Das Feuer in seinen Augen erinnerte an ein angriffslustiges Raubtier.
Camillas wollte antworten, wusste aber nicht genau, wie und wo sie anfangen sollte. Unter dem Tisch schlossen sich Christophs Finger um ihre.
»Gegenfrage. Was ist das da unten?« Sein Ton war eine einzige Herausforderung.
Amadeo ließ sich nicht reizen. »Das weißt du, Chris«, antwortete er ruhig. »Du warst vor vielen Jahren schon einmal dort.«
»Da dachte ich auch, es sei dein Labor und deine Bibliothek!« Chris spannte sich.
Amadeo hob die Brauen. Sein Gesicht drückte Unglauben aus. »Wirklich?«
Chris schüttelte seine Irritation rasch ab. »Ich habe gesehen, wie du dorthin gegangen bist.« Sein Tonfall änderte sich merklich. Er wurde ruhiger.
Amadeo schüttelte den Kopf. »Das alles gehört ihm.«
Camilla dachte an die Jagd und all die Angst, die sie und Chris aushalten mussten. Ihr riss der Geduldsfaden. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Warum steht ausgerechnet Ihr Haus auf dem Zugang zu dem Bau des Monsters?«
»Weil das vor langer Zeit sein Haus war«, entgegnete Amadeo gelassen.
Camillas Kinnlade klappte hinab. Amadeo hebelte sie mit einfachen Worten, Logik und Ruhe aus. Sie schüttelte ihre Fassungslosigkeit ab.
»Warum erzählen Sie nie die ganze Wahrheit? Damit bringen Sie jeden in Gefahr. Was soll das?«
Der alte Mann legte seine Hand auf den Tisch. Er ignorierte ihre Worte. »Erzählt, was euch dort unten widerfahren ist.«
Sie ließ ihre Faust erneut auf den Tisch knallen. Amadeos widerliche Ruhe reizte sie bis aufs Blut. Sie war kurz davor, loszuschreien. »Gern! Wenn Sie dann auch mit offenen Karten spielen, Herr Hoffmann!«
Ein kurzes Aufflackern in Amadeos Augen blieb ihr nicht verborgen. Heimlicher Triumph verdrängte ihren Zorn.
Lag sie etwa doch falsch? Immerhin konnte niemand so lang leben, gleichgültig, was Chris sagte. Geistig überschlug sie sein Alter. Wenn Amadeo und Hoffmann identisch waren, musste er fast 240 Jahre alt sein. Ein schrecklicher Verdacht kam ihr in den Sinn. Vielleicht stand sie Hoffmanns Urenkel gegenüber.
Ein Schauder rann über ihren Rücken. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann galt zeitlebens als ein Liebhaber schöner Frauen. Wie viele Kinder er gezeugt hatte, wurde nirgends festgehalten.
Plötzlich stand ihre Theorie auf wackligen Beinen. Wie alt wurde man, wenn kein Tageslicht existierte? Sicher alterte ein Mensch früher. Möglicherweise war Amadeo noch nicht allzu alt. Sie schüttelte den Gedanken ab. Amadeo ähnelte entfernt den Darstellungen Hoffmanns. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie das Gemälde, das Hoffmann von sich gefertigt hatte, in die Jahre kam. Obwohl der Dichter sich überspitzt dargestellt hatte, fiel es ihr nicht schwer. Erschreckenderweise deckte sich ihre Überlegung recht gut mit dem alten Mann. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. War Amadeo identisch mit Hoffmann? Woher kamen ihre plötzlichen Zweifel? Sie schluckte, zwang sich mühsam, ihren Geist zu leeren, um zur Ruhe zu kommen.
Es funktionierte nicht. Unterschwellig bohrte sich eine Idee in ihr Bewusstsein. Hoffmann, wie sehr dieser Name doch ihrem glich. Hofmann und Hoffmann … unwichtig, oder?
Unwillig schüttelte Camilla das Gedankenfragment ab. Es verblasste so rasch wie es gekommen war, als würde jemand nachhelfen.
Ein Schauder rann über ihren Rücken, aber auch das Gefühl ebbte ab und verschwand in diffusen Nebeln.
Worüber hatte sie nachgedacht? Ach ja, Amadeo – Hoffmann.
Der schale Nachgeschmack, etwas Wichtiges vergessen zu haben, haftete an ihr. Trotzdem blieb das Fragment aus ihrer Erinnerung verschwunden.
Sie zog die Brauen zusammen. Mühsam nahm sie den Gedankenfaden wieder auf. Es galt zu beweisen, dass Amadeo und Hoffmann identisch waren.
Vielleicht war ihr Denkansatz vollkommen falsch. Wie konnte jemand so alt werden?
Die Puppen, zuckte es durch ihren Geist. War er überhaupt noch ein Mensch?
Ein schrecklicher Verdacht erwachte. Möglicherweise stammte Amadeo aus der Werkstatt des Sandmanns. Das würde erklären, weshalb er öfter in die Katakomben ging. Vielleicht baute Nathanael ebenfalls Augen in den Körper ein. Sie hatte nicht vergessen, was Olympia gesagt hatte. Die Seelenkraft stammte aus den Augen junger Menschen.
Ihr wurde übel und zugleich schwindelig. Sie klammerte sich an die
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