Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
klang echt.
»Dass ich abgehauen bin.« Um den Blicken der Ärztin auszuweichen, wandte sie sich Chris zu, der aus seiner Hose die Tabakpackung gerettet hatte. Er drehte sich eine neue Zigarette, lächelte ihr dann aber aufmunternd zu.
»Chris habe ich auch in Gefahr gebracht.«
»Was den ersten Punkt angeht, Camilla, haben deine Handlungen uns sogar sehr geholfen.« Die Ärztin blinzelte ihr zu.
Überrascht sah Camilla auf. »Aber Frau Wallraf …«
»Nenn mich ruhig Melanie!«, entgegnete diese und erhob sich von ihrer Tischkante, nur um Chris die frisch gedrehte Zigarette abzunehmen und sie sich selbst in den Mundwinkel zu stecken.
»Hey! Meine!« Er runzelte die Stirn, grinste aber. Die Ärztin drohte ihm mit der Faust. »Du … Suchtkrüppel!« Rasch wandte sie sich Camilla zu.
Die beiden verhielten sich wirklich wie Freunde. Das Gefühl vermittelte ihr Normalität. Christophs Verhältnis zu Melanie war anders als das zu Amadeo oder Olympia.
Camilla zögerte, bevor sie den Gesprächsfaden wieder aufnahm. »In Ordnung, Melanie.« Sie strich sich die nassen Haare zurück. »Was ist denn passiert, nachdem ich weggerannt bin?«
»Das würde mich auch interessieren«, sagte Chris und drehte sich die nächste Zigarette, nur um sie Camilla hinzuhalten.
»Spinner!« Sie schob seine Hand weg.
Er grinste wieder und steckte sie sich zwischen die Lippen. Melanie reichte ihm ihr Feuerzeug.
»Grimm ist suspendiert worden.«
Camilla riss die Augen auf. Ihr Herz schlug schneller vor Freude.
»Bernd Weißhaupt hat ein Untersuchungsverfahren gegen ihn angestrengt.« Melanie nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch aus. »Nachdem er wie ein Wahnsinniger hinter dir hergerannt ist, verschwand er von der Bildfläche. Damit kam der Stein ins Rollen. Ich habe Bernd über alles informiert, was ich mitbekommen habe.« Sie wies mit der brennenden Zigarette auf Camilla. »Die Sache mit deinen Eltern hat mich stutzig gemacht. Du hast schon recht. Sie hätten sich kaum von unserem Empfang abwimmeln lassen.«
»Sage ich ja. Aber was ist mit ihnen?«
»Tja.« Melanie nahm einen weiteren Zug. »Die beiden sind – laut deiner Nachbarschaft – mit Theresas Eltern in die Karibik geflogen. Bernd sagte, dass sie dir eine Nachricht in deinem Jugendhotel hinterlassen haben, als sie dich auf dem Handy nicht erreichten.« Rauch quoll bei jedem Wort über ihre Lippen.
Camilla atmete auf.
»Bernds Kollegen in Frankfurt haben bereits eine Benachrichtigung zur Isla Margarita gesendet. Die dortigen Behörden kümmern sich um alles Weitere.«
Camilla lachte befreit auf und stützte ihren Kopf in die Hände. »In der Karibik sind sie …« Sie strich sich die Locken aus dem Gesicht. »Dann sind sie doch mit Theresas Eltern unterwegs.« Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass auch die Mielkes informiert würden. Wenn sie von Theresas Tod erführen, würden sie zusammenbrechen und ebenfalls nach Berlin kommen. Die Vorstellung schnürte ihr die Kehle ab. Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe.
Grimm war zumindest Theresas Entführer, so viel stand für sie fest. Sobald sie an ihn dachte, stellten sich ihr alle Härchen auf. Dieser Mann weckte mehr Angst als der Sandmann. Gleichgültig, wie abstoßend und gefährlich das Monster war, die Gefahr ging in erster Linie von Grimm aus. Ein Wesen wie der Sandmann wirkte aus unerfindlichem Grund irreal. Die Bedrohung, die er fraglos bedeutete, sank damit auf ein Maß herab, das sie als Albtraum abtat. Sie konnte sich in keiner Weise erklären, weshalb der Zwei-Meter-Koloss nicht das gleiche Gefühl von Angst auslöste wie Grimm.
Vielleicht lag es daran, dass Grimm ein Mensch war, schlimmer, ein Polizist, dem man automatisch traute.
In Kindertagen konnte keine Edgar Allen Poe Geschichte sie so einschüchtern wie ein Bericht über Jack the Ripper.
Sie streifte ihre Überlegungen ab und knetete ihre Finger. »Wissen die Mielkes schon von Theresas Tod?« Ihre Stimme brach.
Melanies Augen weiteten sich. »Tod?« Eisiger Schreck manifestierte sich in ihren Zügen. Mit der Zigarette zwischen den Fingern verharrte sie dicht vor ihren Lippen. Schließlich ließ Melanie sie sinken.
Hilflos vergrub Camilla ihr Gesicht in den Händen. »Wenn die beiden hier auftauchen, bricht die Hölle los, das schwöre ich euch.«
Chris strich über ihren Nacken. »Du bist nicht allein.«
»Ich weiß. Aber Chris, verstehst du nicht, welche Konsequenzen das nach sich zieht?« Erschöpft schüttelte sich Camilla.
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