Glattauer, Daniel
»Mir graust
vor Küssen«, erwiderte Max mit weinerlicher Stimme. Finni kniff ihre Augen wie
eine Wildkatze zusammen und warf die Tür hinter ihm zu. Noch im Stiegenhaus
hatte er das Gefühl, den schlimmsten Satz gesagt zu haben, den man einem
Mädchen am Höhepunkt des Verliebtseins und am Beginn des so innig ersehnten Austausches
von Zärtlichkeiten sagen konnte. Und das Allerschlimmste daran: Es war die
Wahrheit und sie würde es immer bleiben.
Heute, mit
34, wusste Max, dass Liebe ohne Küssen nicht funktionierte. Somit wusste er
auch, dass Liebe bei ihm niemals funktionieren konnte. Das war insofern bedauerlich,
als Max gern und stark liebte. Er verliebte sich rasch, heftig und
leidenschaftlich. Er konnte sich in Liebe hineinfallen lassen und darin
aufgehen, konnte Gefühle zeigen, konnte darüber sprechen, konnte schmeicheln
und schwärmen. Er konnte garantiert auch treu sein, wenn er sollte. (Das musste
er noch nie beweisen.) Er war befähigt und bereit, einer Frau, die er liebte,
alles zu geben. Nur keinen Kuss.
Natürlich
hatte er in den vergangenen 16 Jahren alles ausprobiert, um länger als einen
Abend lieben zu dürfen, ohne küssen zu müssen. Grob gesprochen gab es für ihn
zwei Möglichkeiten, dem Zungenkuss zu entkommen: Entweder er blieb darunter
oder er fing gleich darüber an.
Das
»Darunter« erwies sich für ihn stets als quälend unbefriedigend. Er brauchte
dabei nur an die schrecklichen Nächte mit Pia zu denken, einer
Kleopatra-ähnlichen Kunstgeschichtestudentin, die er auf der Uni kennen gelernt
hatte. Er probierte damals gerade Jus aus - und arbeitete als Kellner in der
Mensa. Schon gegen Ende des ersten gemeinsamen Abends wussten sie, dass der
hochgeistige Eröffnungsteil meisterhaft gelungen war, dass sie einander
ideologisch blind verstanden, ohne einander genau zugehört zu haben. Dazu
waren sie zu betört.
Nun war es
also an der Zeit, sich den körperlichen Dingen zuzuwenden. Nur deshalb
zwängten sie sich um 3 Uhr früh in die dunkelste Nische der Bar und bewegten zu
Tom Waits ihre mit Wein befeuchteten Lippen. Näher zusammenrücken konnten sie
nicht mehr. Und jeder Satz, den ihm Pia liebestrunken ins Ohr hauchte - egal ob
»Die Picasso-Ausstellung soll großartig sein«, »Ich mag dieses Lokal« oder »Am
Wochenende muss ich meine Großmutter besuchen« -, hieß bereits: »Küss mich
doch endlich!« Aber Max blieb eisern »darunter«. Er hauchte ihr laszive
Antworten ins Gesicht. (»Ja, Picasso war schon einer der Größten«, »Ja, dieses
Lokal hat einfach Flair« oder: »Ich muss meine Großmutter am Wochenende zum
Glück nicht besuchen, sie lebt in Helsinki.«) Dazu setzte er den wehmütigsten
aller »Gib-mir-noch-Zeit-ich-muss-erst-zu-mir-finden! «-Blicke auf. Sie
erweiterte ihre dunklen Augen auf doppelte Kleopatra-Größe, führte ihre
Zungenspitze wie eine Haiflosse über ihre Oberlippe und meinte damit: »Zehn
Sekunden gebe ich dir noch.« Er ging grausam leidend über die volle Distanz,
ließ dann seinen Kopf hängen und starrte ihr verstohlen und sehnsüchtig auf den
Busen.
Abende,
die derart qualvoll unerfüllt endeten, mussten selbstverständlich mehrmals
wiederholt werden. Sie wurden von Mal zu Mal unerträglicher. Der Zeitpunkt, zu
dem zwingend geküsst werden musste, kam immer früher. In der Verzweiflung, dass
nichts geschah, war die Beziehung bald symbiotisch. Man sprach, voll des
intimen Weltschmerzes, von der Rodung der Regenwälder, dem Wechsel der
Gezeiten und der Bedeutung Giottos für die italienische Malerei des 14.
Jahrhunderts. Die letzten Sätze solcher Abende lauteten zumeist: »Was ist
eigentlich los mit dir, Max?« (Pia.) »Ich mache gerade eine schwierige Phase
durch.« (Max.) Dann gab es noch einen weggeworfenen Abschiedskuss auf eine der
vier Wangen. Und am nächsten Abend trafen sie einander wieder und litten
weiter unter ihrer unbegründeten Enthaltsamkeit.
Irgendwann
im Verlaufe einer wortlos gewordenen Nacht hielt es Max nicht mehr aus und
sagte: »Pia, mir reicht es, ich will mit dir schlafen!« Daraufhin sprang sie
vom Sitz, beugte sich über den Tisch und drückte mit frei werdenden Kräften
180-stündiger aufgestauter Begierde seinen Kopf an ihre Brust. Dort ließ sie
ihn leider nicht verweilen. Sie fasste den Kopf vielmehr an den Schläfen und
hob ihn zu ihrem hinauf. Als ihr Mund nur noch ein paar Millimeter von seinem
entfernt war, riss sich Max von ihr los und protestierte wie ein trotziges
Kind, dem man Reis statt Pommes
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