Glattauer, Daniel
Finnis
Liebhaberkreise umfassten die gesamte Oberstufe, hundert fiebrig pubertierende
Schulbuben, in deren Köpfen sich täglich tausend unerfüllbare Finni-Phantasien
regten. Nur ein Bruchteil davon war jugendfrei.
Max hätte
nie gewagt, Finni anzusprechen, schon gar nicht in der Hofpause, vor all den
hormonschubträchtigen Mitschülern. Finni war es, die plötzlich neben ihm stand
und fragte: »Wie heißt du?« - »Er heißt Max«, sagte Schwätzer Günter, der
hervorgeprescht war, um aus Max' Sekundenlähmung Kapital zu schlagen. Aber Finni
sah nur ihn. Und wie sie ihn ansah! Ihre Blicke kamen von unten (Finni war fast
zwei Köpfe kleiner als er) und wurden aus faszinierend klaren Augen auf die
Reise geschickt. Sie spannten einen hohen Bogen, streiften sanft über seinen
Nasenrücken, hoben ab, stiegen neuerlich an, streichelten seine Augenbrauen,
krümmten sich und legten sich in steilem Winkel von oben in seine Augenbetten, hintergruben
diese zart und landeten auf dem Seeweg der Augenflüssigkeit in seinem
Kleinhirn, wo sie bald sehr viel Platz einnahmen. In der Literatur nennt man
solche Blicke zumeist »verführerisch«, »fesselnd« oder »verzehrend«. Aber das
sind plumpe Untertreibungen. Max war sofort verliebt.
»Bist du
schüchtern?«, fragte Finni. »Ich weiß nicht«, erwiderte Max. (Wegen dieser
Antwort wälzte er sich eine Nacht lang unruhig im Bett.) Die Mitschüler
grinsten stupide und boxten einander stumpf auf die Schultern. »Gehst du gern
ins Kino?«, fragte Finni. Bei »Kino« ging sie mit ihrer überraschend tiefen,
fast heiseren Stimme hoch hinauf und warf ihm drei ihrer Blicke gleichzeitig
zu, wobei sie auch noch den Kopf leicht verdrehte, wodurch die Blicke einen
zusätzlichen Seitwärtsdrall bekamen. In Finnis Wort »Kino« steckte bereits das
volle Programm an sexuellen Wunschvorstellungen eines 18-Jährigen.
Ja, wenn
es einen guten Film spielt«, erwiderte Max, diesmal mit etwas mehr Stimme. Die
Antwort fand er den Umständen entsprechend gar nicht so schlecht. Vielleicht
klang sie ein bisschen zu vernünftig. »Gehst du mit mir?«, fragte Finni. Der
Satz elektrisierte ihn. Hatte sie »ins Kino« absichtlich weggelassen? - »Ja,
gern«, erwiderte Max bemüht nebensächlich. Beinahe hätte er »Wenn es einen guten
Film spielt« angefügt. Das hätte er sich nachher nie verziehen.
»Morgen
Abend?«, fragte Finni. Langsam gewöhnte er sich an die knappen Intervalle der
Weltsensationen. »Na sicher«, sagte er und versuchte ihr locker zuzuzwinkern.
Zum Glück hatte sie es nicht bemerkt. Man einigte sich auf 7 Uhr vor dem neuen
Kinocenter. Zur Verabschiedung nickte sie aufwühlend und peitschte ihm noch
eine letzte Blickserie ins Gesicht. Danach wurde er von seinen Mitschülern mit
Boxschlägen und animalischem Gegröle als Frauenheld gefeiert.
Beim
Treffen trug Finni das engste ihrer zu engen T-Shirts. Sie war leicht
geschminkt, roch nach Walderdbeeren und sagte, sie hätte keine Lust auf Kino.
Bei ihr daheim gäbe es Bier, ihre Eltern seien aufs Land gefahren, sie hätten
die Wohnung also für sich allein, später würden ein paar Freunde und
Freundinnen dazukommen. Aber erst sehr viel später.
Max war so
verliebt, dass er sich widerstandslos zu ihr heimtreiben ließ. Er hatte keine
Zeit zu überlegen, ob er verantworten konnte, dass er machen wollte, was er sogleich
machen würde. Er sah das gelbe Sofa, die vorbereitete Kerze, die Decke. Sekunden
später saß Finni auf ihm, schlang ihre Arme um seinen Hals und streichelte
seinen Nacken. Ihre Augen waren nur noch ein paar Zentimeter von seinen
entfernt und schleuderten ihm in Zehntelsekundenabständen erotisierende Blicke
entgegen.
Sie legte
ihre Handinnenflächen auf seine Wangen und zog sein Gesicht sanft zu ihrem
Mund. »Mach die Augen zu, du Süßer«, war das Letzte, was er von ihr hörte. Dann
vermischten sich die schrecklichsten Gerüche der Kindheit und bildeten einen
Brei, den er aus der Tiefe seines Magens langsam hochsteigen spürte. -
Milchrahmstrudel mit Knoblauch, Leberwurst mit Hering, Vanillesauce mit Zwiebelsenf,
Küchenmeisterin Sissi wünschte guten Appetit! - Gerade noch rechtzeitig konnte
er seine Zunge von jener Finnis lösen, ihren Mund verlassen und seinen Kopf zur
Seite drehen.
Nachdem
sie das Sofa notdürftig gereinigt hatten, schlug er vor, nach Hause zu gehen. Finni
fiel spontan auch nichts Besseres ein. »Was war los?«, fragte sie bei der
Wohnungstür rau und brach ihren Blick auf halbem Weg zu ihm ab.
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