Glattauer, Daniel
niemand
wagte sich nah genug an die fette Sissi heran.
Der Plan
war leichter als die Durchführung. Schließlich überwältigten die fünf
tapfersten »Dreckigen Totenkopfpiraten« die fette Sissi, die gerade eine
Kümmelbratensemmel in Arbeit hatte, mit drei zusammengebundenen Zeltplanen,
packten sie sorgsam ein und schafften sie ins Hauptquartier. Sissi selbst, und
das irritierte die Piraten ein bisschen, fand die Aktion aufregend und war
schon gespannt, was man sich mit ihr einfallen lassen würde; hoffentlich ließe
man sie nicht hungern. Max selbst war es, der auf die Idee mit dem ZK
(Zungenkuss) kam. Heute würde er sich dafür am liebsten die Zunge abschneiden. Die
»Dreckigen Totenkopfpiraten« fanden die Idee, Sissi zu küssen, genial und
wussten, dass dies der Saisonhöhepunkt sein würde. Max hatte natürlich nicht an
sich selbst, sondern an einen besonders üblen Feind gedacht, den man auf diese
schreckliche Weise grausam foltern könnte. Aber wie gesagt: Feinde gab es
keine mehr. Und plötzlich waren sich alle einig, dass Max die ideale Besetzung
für einen Zwangs-ZK mit der fetten Sissi wäre. Denn er war der mit Abstand
hübscheste, zarteste und sauberste »Dreckige Totenkopfpirat«. Er war der
Ästhet unter ihnen, der Schöngeist, der Intellektuelle, das
Totenkopfpiratenhirn. Bei ihm war der Kontrast zur fetten Sissi und somit auch
die Vorfreude der Gruppe auf einen gemeinsam zu erlebenden ZK am größten.
Zwei
Stunden weigerte sich Max beharrlich. Dann hatten sie ihn so weit. Sie wollten
ihn im Falle der Verweigerung nicht nur für Lebzeiten aus der Bande
ausschließen. Sie drohten, in der Schule Plakate mit der Botschaft auszuhängen,
dass er, Max, jeden zweiten Tag in die Hose mache und dass er in die Frau
Lehrerin Obermaier mit den Spinnenhänden verknallt sei. Also überwand sich Max
und schickte sich an, die fette Sissi zu küssen.
Er schloss
die Augen ganz fest und zwang sich, an Milchrahmstrudel mit Vanillesauce zu
denken. Plötzlich spürte er, wie sich eine gallertige Masse üblen Geschmacks um
seine Zunge legte, wie aus Speichelsekreten lauwarme verfaulte
Leberwurst-Hering-Extrakte traten und sich fettfaserartig in seinem Mund
verteilten. Da riss er die Augen auf, blickte in süchtige Schweinsaugen und sah
das volle Ausmaß der Katastrophe. Die fette Sissi hatte ihr Schlauchboot an
seinem Mund festgesaugt und schickte sich an, mit kräftigen Saugbewegungen
sein gesamtes schmales Gesicht zu verschlingen. Dabei strich sie mit ihrer
Zunge gierig über Nase, Augen und Schläfen, landete dann wieder bei seinem Mund
und stieß noch einmal kräftig hinein. Die »Bravo-Max-der-Küsser-König-der-Max-der-kann's-der-Max-der-hat's«-Rufe
im Hintergrund wurden immer schriller, ehe sie halluzinatorische Klangfarben
entwickelten.
Max verlor
das Bewusstsein und kippte auf die fette Sissi, fiel also wenigstens weich.
Als er zu sich kam, lag er im Spital der »Barmherzigen Schwester Elisabeth«.
Die Ärzte diagnostizierten eine »bösartige Fleisch- oder Fischvergiftung«.
Erst nach einer Woche konnte er in häusliche Pflege entlassen werden. Die
Darmflora brauchte drei Jahre, um sich wieder aufzubauen. Nach weiteren fünf
Jahren konnte Max erstmals Fleisch- und Fischspeisen zu sich nehmen, ohne sie
postwendend von sich zu geben. »Milchrahmstrudel mit Vanillesauce« probierte
er nie wieder.
Die
»Dreckigen Totenkopfpiraten« hatten sich nach diesem Vorfall aufgelöst und
gingen in die Kirche, um zu beten und zu beichten. Sissi soll in der
Zwischenzeit hundert Kilo abgenommen haben, dürfte also eine mollige Frau geworden
sein. Max konnte seit damals an keinen Zungenkuss denken, ohne Übelkeit zu
verspüren. Er konnte verliebt sein, sosehr er wollte. Er konnte erregt sein,
so stark er wollte. Es konnte die Situation danach schreien, so laut sie
wollte. - Max konnte nicht küssen.
Einmal
hatte er es probiert. Er war 18 und stand knapp vor der Matura. Sie hieß Finni,
ging in die Sechste, war sicher das selbstbewussteste und wahrscheinlich das
schönste Mädchen der Schule, hatte kurze blonde Haare und trug die engsten
T-Shirts, die ein Mädchen damals tragen konnte, ohne gar keine zu tragen. Seit
Wochen wurde Max mit dem Gerücht konfrontiert, Finni aus der Sechsten hätte ein
Auge auf ihn geworfen. Schon die Formulierung des Gerüchts brachte ihn aus der
Fassung und ließ sein Herz heftig klopfen. Denn ein von Finni geworfenes Auge
galt in Liebhaberkreisen als unerschwinglich wertvoll. Und
Weitere Kostenlose Bücher