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Glattauer, Daniel

Glattauer, Daniel

Titel: Glattauer, Daniel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Weihnachtshund
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drei
verheirateten Töchter der Tante Helli im bewussten und gewollten großfamiliären
Zusammenwirken und zur restlosen Beglückung der Tante Helli monatlich
mindestens ein Kind, manchmal auch Zwillinge. Katrin hatte zwar nicht
mitgezählt, sie wusste aber, dass sie die Eltern durchschnittlich dreimal im
Monat besuchte und anlässlich jedes dritten Besuches die neuen Fotos der neuen
Babys der drei Töchter der Tante Helli zum Mittagessen serviert bekam. Babys,
die mutig genug waren, so auszusehen, wie sie aussahen, und sich trotzdem fotografieren
ließen. Die Babys waren überhaupt die Mutigsten der gesamten Großfamilie der
Tante Helli, dachte Katrin und legte die Bilder zur Seite.
    »Ich muss
euch etwas sagen«, sagte sie nun, bevor das Thema Weihnachten angeschnitten
werden konnte, und legte das »Mohr-im-Hemd«-Besteck zwischen den halben »Mohr«
und das dreiviertel »Hemd« auf den Teller: »Ich kann heuer am Heiligen Abend
nicht bei euch sein. Ich habe einen ...« - »Dann nimm ihn mit, Maus! Er ist
herzlich willkommen, das weißt du doch. Er soll mit uns mitfeiern. Machen wir
Nägel mit Köpfen!«, jubilierte der Vater. - »Ist es etwas Ernstes,
Goldschatz?«, fragte die Mutter, stützte die Ellbogen auf den Tisch und presste
die Fäuste so fest zusammen, dass sich das Gesicht kirschrot verfärbte. -»Ich
habe einen Hund«, sagte Katrin kleinlaut. Danach war es zehn Minuten still.
Ernestine Schulmeister-Hofmeister faltete die Hände und schien um Vergebung von
Sünden zu beten, deren Schwere sie bisher unterschätzt haben musste. Bei Rudolf
Schulmeister-Hofmeister erweiterten sich die Pupillen und sein Kopf begann
rhythmisch in alle Richtungen zu zucken, als würde er im Geiste die Schlussakkorde
einer Tragikouvertüre dirigieren.
    »Es ist
nicht mein Hund«, sagte Katrin zu einem Zeitpunkt, als es schon eher
unwahrscheinlich geworden war, dass jemand noch etwas sagen würde. Der Satz
barg wenig Trostpotenzial in sich. Es war so, als hätte Katrin zuvor einen
Bankraub eingestanden und würde jetzt verlautbaren: »Es war nur eine kleine
Bank.«
    Allein
schon das Wort »Hund« im Hause Schulmeister-Hofmeister über die Lippen zu
bringen, bedeutete unmissverständlich: Hochverrat. Katrin wusste, was ein
Vertreter dieser Tierrasse ihrem Vater angetan hatte. Und es war bisher ihre
Mindestration an töchterlicher Solidarität gewesen, Hunde ein Leben lang zu
verabscheuen und konsequent zu meiden, selbst im Gespräch.
     
    Es gibt
Tage, an denen sich die Zukunft entscheidet. Eigentlich entscheidet sie sich
jeden Tag. Nein, eigentlich ist es nicht die Zukunft, die sich täglich
entscheidet, sondern die Gegenwart. Allenfalls entscheidet sie sich auf Kosten
der Vergangenheit für die Zukunft. Aber sei es, wie es sei: Der Tag, an dem
sich für Rudolf Hofmeister die Zukunft entscheiden sollte, war der 27. Juni. Er
war sonnig. Er war warm. Auf ihn hatte der junge Hofmeister seit seiner Handelsschulzeit
gewartet.
    Katrins
Vater verkaufte. Niemals eigene Sachen, er hatte keine. Er verkaufte Dinge, die
ihm nicht gehörten, und bekam ein bisschen Geld dafür. Er war (und blieb)
Vertreter. Er vertrat alles, was gerade noch vertretbar war: Schuhbänder,
Zeitungsständer, Insektensprays, Rumkokosdragees, Seniorenmagazine,
Niederdruckventile. Er ging von Tür zu Tür. Die wenigsten öffneten sich. Erwischte
er eine Hand, so ließ er sie nicht mehr los.
    Wichtig
war ihm, dass die Leute sein Gesicht sahen, dann sahen sie auch den Mund und
bald auch die Sache darüber. An Rudolf Hofmeisters Oberlippenbart blieben die
Blicke wie Fliegen im Spinnennetz hängen. Es war der schmälste, schütterste und
leichtgewichtigste Oberlippenbart, vor dem sich jemals eine Tür schwungvoll
geöffnet hatte, ohne dass der Bart über die Oberlippe segelnd zu Boden
gefallen wäre. Die Leute wussten gleich: Diesem Mann fehlten wertvolle
Proteine. Man musste ihm also dringend etwas abkaufen. Leider passierte es viel
zu selten, dass jemand seinen Oberlippenbart zu Gesicht bekam.
    Die
Rhetorik war nur Nebensache. Hofmeister wählte zumeist: »Grüß Sie, Hofmeister.
Ich bin hier, um Ihnen eine Minute Ihres Lebens zu stehlen.« - Den meisten
stahl er damit nur ein paar Sekunden. Aber das war eben der Beruf.
    Der Traum
des jungen Hofmeisters war es, mit einem Schlag reich zu werden. (Er hatte nie
behauptet, dass er sonderlich originell träumte.) Am 27. Juni sollte der Traum
in Erfüllung gehen. Hofmeister stand unmittelbar davor, 1800

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