Glattauer, Daniel
verwenden.« Damit schien das Gespräch für ihn
betrüblich zu Ende gegangen zu sein.
Nicht aber
für Katrin. Sie wiederholte ihren Satz (und ersetzte »fulltimemäßig« durch
»voll beansprucht und ausgelastet«). Daraufhin wurde Doktor Harlich sehr ernst
und sagte: »Ich glaube, Sie sind überarbeitet. Nehmen Sie sich den Freitag
frei. Nehmen Sie sich den Freitag von nun an immer frei und lassen Sie mir
bitte das Geld.« Er hob seine dicken Brillen ab, rieb sich die feuchten
(beinahe blinden) Augen, schleckte melancholisch am Brillenbügel und setzte
mit gebrochener Stimme zu einem Nachwort an: »Sie sind jung und schön, gnädiges
Fräulein, also nützen Sie Ihre Freiheit. Ich bin alt, bei mir zählt nur noch
das Geld.« - Beinahe hätte Katrin um eine Gehaltsreduzierung gebeten.
Der
Freitag war also frei wie immer. Dafür war der Ausläufer einer Kaltfront
eingetroffen. Was »Kaltfront« bedeutete, war allgemein bekannt. »Ausläufer«
hieß, dass die Kaltfront eine Art Spähtrupp vorgeschickt hatte. Dieser
kundschaftete die Landschaft aus und berichtete der Kaltfront: »Hervorragende
Gegend. Wir können uns hier bequem ausbreiten. Kommt ruhig nach, nehmt alle
mit. Vergesst mir den Hagel nicht.« So eine Kaltfront blieb dann oft
wochenlang im Lande. Sie mochte das österreichische Klima, die düsteren
Gestalten und die sie umhüllenden Grautöne des Winters. Sie mochte, wenn es
weihnachtete.
Es war
jedenfalls kein Freitag, an dem Katrin ihre Wohnung (also Bett und Internet)
verlassen hätte, um sich dem Ausläufer einer Kaltfront zu stellen, wenn es
nicht unbedingt notwendig gewesen wäre. Nun, es war unbedingt notwendig:
Katrin war bei ihren Eltern eingeladen. Und bei den Eltern eingeladen zu sein,
hieß: die Einladung anzunehmen. Eine einzige Ablehnung einer Einladung der
Eltern hätte deren 29-jährige Erziehungsarbeit in Frage gestellt. Das Ehepaar
Schulmeister-Hofmeister hätte plötzlich nicht mehr gewusst, wozu es (für
Katrin) lebte. Sein existenzielles Vakuum wäre noch größer als jenes von Augenarzt
Doktor Harlich gewesen, hätte dieser Katrin eine Gehaltserhöhung zugebilligt.
Die
Einladung war schon im Vorfeld trüber Gedanken von außergewöhnlicher Unlust
geprägt. Sie enthielt sieben Unannehmlichkeitsgrade (wobei jeder Grad etwa die
Stärke von minus zehn Grad Celsius eines Ausläufers einer Kaltfront hatte).
Erstens: Die Eltern wollten mit Katrin über Weihnachten reden. Zweitens: Sie
wollten mit ihr über den Heiligen Abend reden, welcher identisch mit ihrem
Geburtstag war. Drittens: Sie wollten mit ihr über den Heiligen Abend reden,
welcher identisch mit nicht irgendeinem, sondern ihrem 30. Geburtstag war.
Viertens (Mutter): »Goldschatz, wir wollen dir am Heiligen Abend ein
Geburtstagsfest bescheren, das du nie vergessen wirst. Dir soll es an nichts
fehlen. Darüber müssen wir uns unterhalten.« Fünftens (Vater): »Maus, wir
werden Weihnachten heuer generalstabsmäßig angehen. Wir machen Nägel mit
Köpfen. Das wollen wir mit dir besprechen.« Sechstens (Mutter): »Goldschatz,
ab dreißig ist man kein Kind mehr. Das ist ein ganz besonderer Tag. Da sollte
man beginnen, sich langsam Gedanken über die Zukunft zu machen. Darüber
müssen wir uns unterhalten.« Siebentens (Vater): »Maus, deine Mutter macht sich
Sorgen um dich. Du weißt, sie liebt dich über alles. Sie will, dass du glücklich
bist. Darüber sollten wir reden.« - Diesem elterlichen Granulat an scheinbar
unumgänglich zu besprechenden vorweihnachtlichen Betrüblichkeiten stand ein
einziger Lichtblick gegenüber. Er verbarg sich in Katrins Antwort auf die Frage
(achtens): »Goldschatz, was wünscht du dir eigentlich?« - Ruhe und Abstinenz
von daheim, wusste Katrin. Aber wie brachte sie es ihnen bei?
»Mama und
Papa, ich muss euch etwas sagen«, sagte Katrin nach einer Stunde, einer
Grießnockerlsuppe, einem Rehrücken mit Wildkroketten, aber ohne Preiselbeeren
(die waren schimmlig), und dreißig aktuellen Fotos der Familie der Tante
Helli, der glücklichsten Tante der Welt. Denn ihre drei Töchter waren nicht nur
mutig genug, so auszusehen, wie sie aussahen, und sich trotzdem immer wieder
fotografieren zu lassen. Sie waren auch allesamt jünger als Katrin und alle
schon verheiratet, mit Männern, die ihnen im Mut, so auszusehen, wie sie
aussahen, und sich trotzdem fotografieren zu lassen, um nichts nachstanden. Die
Männer waren sogar noch mutiger, dachte Katrin beim Studieren der Fotos.
Jedenfalls kriegten die
Weitere Kostenlose Bücher