Glattauer, Daniel
Verlangen Aussicht hatte,
gestillt zu werden. Sie stürzte zum Telefon. Der Anrufbeantworter hatte zwei
Nachrichten gespeichert. Die erste kam von Aurelius. Katrin rieb ihre Knie aneinander
und biss sich auf die Unterlippe. »Liebste Katrin, ich hoffe, du bist nicht
böse, dass ich dich gestern nicht angerufen habe. Ich hatte es dir ja
versprochen. Bei mir in der Kanzlei geht es momentan turbulent zu ...« Katrin
hielt sich die Ohren zu und ließ nur noch vereinzelte Worte durch: »sollst du
wissen«, »die Einzige«, »wegen des Kinobesuchs«, »Weihnachten«, »mit deiner
Mama telefoniert«, »jederzeit anrufen«, »morgen wieder versuchen«, »gute
Nacht, Liebling«, »ich träum von dir«. Überstanden. Ende.
Die zweite
Nachricht musste von ihm kommen, und sie kam von ihm. Katrin presste ihr Ohr an
den Lautsprecher. »Hallo Katrin, hier ist Max. Ich hab dir eine E-Mail
geschickt. Ich vermisse dich.« - Der Computer brauchte drei Minuten, um zu
starten. Katrin kürzte währenddessen mit den Zähnen sechs ihrer Fingernägel. Er
hatte »Ich vermisse dich« gesagt, dachte sie etwa zwanzig Mal, um die
Wartezeit zu überbrücken. Sie hatte nur noch ein T-Shirt an und ihr war noch
immer zu heiß für den Empfang seiner Mitteilung. Zuerst sprangen ihr zwei neue
E-Mails von Aurelius ins Auge. Langsam hasste sie ihn für seine Frechheit,
sich über elektronische Schleichwege in ihrem Leben eingenistet zu haben und ihr
den Zugang zu den wichtigen Dingen zu blockieren. Sie löschte die Mails, ohne
sie gelesen zu haben, öffnete die Nachricht von Max und las:
»Liebe
Katrin, du schriebst mir: >Ich hoffe, du hattest einen erholsamen,
entspannenden, befriedigenden Abend.< - Glaube ich dir nicht, Katrin. Du
hofftest, ich würde einen unbefriedigenden Abend haben. Deine Hoffnung wurde
übertroffen: Es war ein grauenvoller Abend. Du schriebst ferner: >Wenn du
morgen einen ungestörten Sonntag verbringen willst, kannst du mir Kurt
vorbeibringen. Der Hund hat ohnehin zu wenig Auslauf< - Ich würde dir Kurt
gerne vorbeibringen, aber ich selbst will keinen >ungestörten< Sonntag
verbringen. Ich würde den Sonntagnachmittag gerne mit dir verbringen. Wenn ich
Kurt bringe, darf ich auch hereinkommen? Katrin, ich habe natürlich gemerkt,
was mit dir los war. Ich würde dir die Sache gerne erklären. Gibst du mir
Gelegenheit dazu? Ich denke ununterbrochen an dich und würde dich gerne sehen.
Kurt hat übrigens nicht zu wenig Auslauf. Ihm ist jeder Auslauf einer zu viel.
Wenn es nach Kurt ginge, gäbe es für Hunde überhaupt keinen Auslauf mehr.
Hoffentlich bis morgen, Max. P. S.: In Kurts Namen bedanke ich mich noch einmal
für die wiehernde Leberkäsesemmel. Wir haben sie schon ins Herz geschlossen.«
»Hallo
Max«, antwortete Katrin sofort, »ja, ich würde mich freuen, wenn du mit Kurt
mitkommst. Ich lasse dich herein. Du kannst auch länger bleiben.«
Danach
legte sie sich ins Bett, biss an den übrig gebliebenen vier Fingernägeln und
wiederholte im Geiste mit unterschiedlichen Betonungen: »Ich denke ununterbrochen
an dich und würde dich gerne sehen.« Das hatte er tatsächlich geschrieben. Wie
konnte er es gemeint haben?
16.12.
»Was macht
das Küssen?«, fragte Paula und legte ihren Arm auf Max' Schulter. Es war
Sonntagvormittag. Draußen regnete es Peitschenhiebe. Die Bürger des Landes
wurden wieder einmal klimatisch dafür bestraft, dass sie im Wohlstand lebten
und trotzdem unzufrieden waren.
Max fehlte
nur noch eine Woche zur Flucht vor dem geheuchelten Szenario Weihnachten, der
monströsen Produktmesse der Würdenträger und Schlitzohren aus Wirtschaft und
Religion. - Eine Woche noch bis zur Reise auf die Malediven, wo angeblich genau
jene Sonne schien, die hier seit Monaten vermisst wurde. Max war aufgeregt.
Aber nicht deswegen.
Bei Paula
gab es ekelhaften Tee aus 26 unbekannten Kräutern, die gleichzeitig 26 vor dem
Ausbruch stehende unbekannte Krankheiten niederkämpften. Paula war Apothekerin.
Ihre Kunden bekamen Medizin, ihre Freunde Heilmittel. Max war einer ihrer
besten Freunde. Unter drei Tassen Spezialtee ließ sie ihn nicht gehen.
Was das
Küssen machte? - »Es graust mir noch immer«, gestand Max. »Kannst du nicht
endlich einmal ein anderes Wort als >grausen< verwenden?«, fragte Paula.
Konnte er nicht. Es gab keines, das den Zustand des Küssens für ihn besser
beschrieb. »Und was macht die Liebe?«, fragte Paula. »Du hast eine, stimmt's?«
- »Ich hätte eine«, erwiderte Max. »Das heißt,
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