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Glattauer, Daniel

Glattauer, Daniel

Titel: Glattauer, Daniel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Weihnachtshund
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du hast sie noch nicht geküsst«,
sagte Paula. Das war richtig. »Und sie weiß auch nichts von ihrem Glück, von
dir noch nicht geküsst worden zu sein.«
    Das war
ebenfalls richtig. »Und du wirst ihr dein Problem auch hoffentlich nicht
verraten.« Das war falsch.
    Max nahm
einen kräftigen Schluck Tee, um genügend Bitterkeit im Mund zu haben, um zu
verkünden: »Heute sage ich es ihr.« - »Bist du wahnsinnig?«, fragte Paula. »Tu
's nicht. Das versteht keine Frau, die nicht bereits unsterblich in dich
verliebt ist.« - »Ohne Kuss wird sich niemals eine unsterblich in mich
verlieben«, erwiderte Max. »Wenn du es ihr sagst, nicht einmal sterblich«,
meinte Paula. Dieses Thema hatten sie schon öfter durchdiskutiert. Es ließ
sich nur leider nicht ausdiskutieren. Es war so wie mit dem Huhn und dem Ei.
Was beendete eine Beziehung mit Max zuerst: das Eingeständnis oder der Kuss?
     
    Paula
durfte sich vor dem Beginn der Freundschaft mit Max selbst zu dessen
Kuss-Opfern zählen. Er war ihr Kunde. Ein Jahr war er ihr nicht aufgefallen.
Er konnte nichts dafür, Paula sah während ihrer Arbeit in der Apotheke keine
Männer, nur deren Rezeptscheine. Eines Tages war ein spannender darunter
(Rezeptschein). Da musste sie eine Tinktur gegen eine Blechdosenallergie
zusammenmischen. Beim Aushändigen beugte sie sich über das Verkaufspult und
flüsterte dem Kunden ins Ohr: »Vergessen Sie den Dreck, der hilft nichts.
Greifen Sie einfach keine Dosen mehr an.« - »Das geht nicht, mein Hund
verhungert. Er isst nur Wildbeuschel aus der Dose«, erklärte Max. Da sah sie
ihn an. Und er gefiel ihr. Er sah auf selbstsichere Weise unbeholfen aus, das
sprach ihr Helfer-Syndrom an. Und sie gefiel ihm ebenfalls - natürlich rein
optisch, wie das bei Männern eben so funktioniert. Sie war groß, hatte ein
schmales Gesicht und Augen, Brauen, Haare und Haut wie Winnetous Schwester.
Vermutlich war sie Medizinfrau und die Arbeit in der Apotheke ein zeitgemäßer
Kompromiss.
    »Vielleicht
haben Sie ein anderes Problem, vielleicht wollen Sie ihm keine Dosen öffnen«,
meinte sie. »Stimmt, mir wäre lieber, er würde sie sich selber öffnen«,
erwiderte Max. »Aber er kann aus eigener Kraft nicht einmal Augen und Mund
öffnen.« Auf diese Weise wanderte das Gespräch von der menschlichen Allergie
zur Hunde-Psychologie.
    Alibihalber
ließ sich Max schließlich eine Salbe ihrer Wahl verabreichen. Da diese nicht
half, musste er ein paar Tage später wiederkommen. Der Vorgang wiederholte
sich, die Salben wurden immer nichtsnutziger, die Besuche immer häufiger, die
Dialoge gewannen an (medizinischer) Vertraulichkeit und an Volumen. Der Ort des
Treffens wurde von der Apotheke in das benachbarte Kaffeehaus und von dort in
eine der beiden Wohnungen verlegt. Die Zeit der Zusammenkünfte verschob sich in
Richtung Abend- und Nachtstunden.
    Im
Kerzenlicht mutierte Paula vollständig zu Winnetous Schwester. Ihre Augen
funkelten indianisch, ihre Arme und Beine waren schlank, sehnig und muskulös,
ihre naturgoldbraune Haut roch nach wildem Honig. (Es war eine
Heilkräuterölmischung gegen noch unbekannte Gelenksentzündungen.) Paulas
einziger Makel: Sie hatte nicht nur einen Mund, sie hatte einen großen Mund mit
breiten Lippen, die Max immer näher rückten und vor denen er sich langsam zu
fürchten begann. Die Worte, die diesen Mund verließen, waren streng
vertraulicher heilpädagogischer Natur. Paula vermittelte Erotik medikamentös.
Sie hauchte ihm Tipps zur Bekämpfung jeder nur möglichen Krankheit zu und ließ
dabei keine Körperregion unerwähnt.
    Max
verliebte sich rezeptlos heftig und ohne Nebenwirkung in beinahe alles an ihr.
Nur der übermächtige Mund war ihm im Weg. Paula bemerkte seine abschweifenden
Blicke und seine ausweichenden Gesten und deutete sie als Versuch, die Begierde
nicht zu plump und ungesteuert auf sie loszulassen. Diese unübliche Art von
männlichem sexuellem Intellekt, von Beherrschtheit, machte Max für sie ganz
besonders anziehend. Später gestand sie ihm, dass sie in dieser Situation auf
Küsse verzichtet hätte, dass seine Berührungen stimulierend genug gewesen
waren, dass er einfach nur hätte tun sollen und alles wäre gut gegangen.
Wahrscheinlich wären sie heute verheiratet und hätten halbwüchsige
Medizinmänner und -Squaws daheim, die auf Blechdosen allergisch waren.
    Stattdessen
brach er die letzte Phase davor ab (die des gegenseitig stockenden Zuatmens)
und eröffnete ihr: »Ich muss dir noch etwas

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