Glattauer, Daniel
sie dir die Vergänglichkeit deines Trugbildes vor Augen
geführt hat. Weil sie dir half, dein Kindheitstrauma aufzuarbeiten.« - »Klingt
nach Sigmund Freud«, sagte Max. »Glaubst du, ich erfinde solche Sachen?«,
fragte Paula. »Jedenfalls würde ich sie an deiner Stelle so rasch wie möglich
aufsuchen.« - »Katrin?«, fragte Max. »Nein, diese fette Sissi.« - »Bist du
wahnsinnig? Wie soll ich sie finden? Und was soll ich ihr sagen? Soll ich
sagen: >Guten Tag, mein Name ist Max. Wenn ich beim Küssen an Sie denke,
gnädige Frau, dann kommt mir das Speiben, und das seit fast zwanzig
Jahren« - »Du bist unseriös! Ich fürchte, das werde ich in die Hand nehmen
müssen«, sagte Paula gelangweilt. »Das würdest du tun?«, fragte Max.
18.12.
Der Morgen
war dunkelgrau. Der Vormittag war mittelgrau. Der Mittag war hellgrau. Der
Nachmittag war mittelgrau. Der Abend war dunkelgrau. Die Nächte davor und
danach waren schwarz. Dazwischen schneite es dünne spitze silberweiße Flocken.
In einem
der lichtesten Momente des Tages traf Katrin ihre Mutter. Sie musste dringend
mit ihr reden. (Mutter mit Katrin.) Das musste sie schon vor einer Woche, aber
da die Dringlichkeit bereits damals die höchste Stufe erreicht hatte, ließ sich
Mutters Zustand stabilisieren und sie sich telefonisch vertrösten. Aber einmal
musste es sein. Und dieser Dienstag im Zeichen des unermüdlichen Schichtarbeiterprogramms
der städtischen Grautöne schien Katrin für die Erledigung von aufgeschobenen
Pflichten prädestiniert zu sein, damit neue, aktuellere nachrücken konnten.
Am
Vormittag war es Katrin gelungen, in den Besitz von acht unterschiedlichen
Weihnachtsgeschenken zu gelangen, die allesamt bekannt- und
verwandtschaftskompatibel waren. Das heißt: Man konnte jedes Ding jeder Person
schenken, man musste die entfernten Tanten, die im Advent stets bedrohlich nahe
rückten, nicht einmal persönlich kennen. Es waren Duftkerzenständeruntersätze,
Teezangenabstellschüsseln und Gesundheitsbadekapselablegevorrichtungen.
Hundertprozentig programmierte Volltreffer, angesichts derer die Beschenkten
zumeist ein entzücktes: »Oh, das ist aber etwas Originelles! Ich wusste gar
nicht, dass es so etwas gibt!« ausstießen. Diese Leute waren ja dankbar über
alles andere als den jährlichen Viertelkilo-Ziegel koffeinfreien Kaffee.
Als Katrin
in das Kaffeehaus eintrat, saß Mutter schon vor einer Schale Tee. Sie lächelte
wie nach der Einnahme einer Überdosis Candisin. Und sie hatte den vorwurfsvollen
»Kind-wie-du-aussiehst!«-Blick einer jener Mütter, die sich permanent
anschickten, an ihrer Besorgtheit zugrunde zu gehen. »Du isst ja gar nichts
mehr, du bestehst nur noch aus Haut und Knochen, Goldschatz«, klagte sie, als
ihr Blick dem Grad der Besorgniserregung nicht mehr standhielt.
Katrin
bestellte, dazu passend, roten Glühwein. Sie mochte ihn zwar nicht, aber sie
brauchte ihn. Mutter sah mit gespitztem Mund auf die Uhr, um die zeitliche Alkoholkurve
der dem Verfall preisgegebenen Tochter zu messen, und schüttelte dabei den
Kopf. »Goldschatz, dein Vater macht sich ernsthaft Sorgen«, sagte sie. Zum
Glück war Mutter verheiratet, dachte Katrin, sonst hätte sie ihre eigenen
Tonnen ernsthafter Sorgen tatsächlich allesamt auf sich nehmen müssen. - »Mama,
mir geht es gut. Alles ist in Ordnung. Ich lebe mein Leben«, sagte Katrin.
Dafür erntete sie - stellvertretend für die bestimmt nicht kleiner gewordenen
ernsthaften Sorgen des Vaters - ein Bündel mitleidiger mütterlicher Blicke.
Bis zum
zweiten Glühwein ihrer Tochter hielt sich Mama tapfer tränenfrei. Sie erzählte
von glücklich verheirateten Schulfreundinnen, die sich nach Katrin erkundigt
hatten, von ihrer für Jänner geplanten Tournee durch alle einschlägigen
Facharztpraxen (einschließlich ihres monatlichen augenheilkundlichen Besuchs
bei der Tochter) und von den ergreifendsten medizinischen TV-Dokumentationen
der vergangenen Wochen. (»Früherkennung und wirksame Methoden gegen Hepatits E«
dürfte sie versäumt haben.)
Außerdem
hatte sie aktuelle Fotos der neuesten Babys der drei Töchter der Tante Helli
dabei, um Katrin den Mund wässrig zu machen. - Aber die trank lieber Glühwein.
Schließlich
ging es um Weihnachten und den 30. Geburtstag und was sich Katrin davon
erwartete und von ihren Eltern wünschte. Sie erwartete und wünschte sich
nichts, was mit ihren Eltern zu tun hatte, außer Ruhe und familiäre Drucklosigkeit.
Doch: Sie erwartete zwar nicht,
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