Glattauer, Daniel
aber sie wünschte sich, dass die Eltern
irgendwann einmal aufhörten sie zu fragen, was sie sich von ihnen erwartete
oder wünschte. Denn tatsächlich erwarteten und wünschten sich nur die Eltern
von ihr und für sie: einen Mann. Wenigstens die Sache mit dem Hund, die einen
Besuch bei den Eltern am Heiligen Abend ausschloss, hatte Mutter schon
vergessen oder verdrängt oder nie ernst genommen. Somit konnte das Thema noch
einige Tage aufgeschoben werden, dachte Katrin.
»Kind, er
war bei mir«, sagte Mutter dann mit schicksalschwangerer Stimme und jetzt
marschierten erste Tränentropfen über das hügelige Kummerfaltengelände ihres
Gesichts. - Das Gespräch bewegte sich unverkennbar seinem Höhepunkt zu. Katrin
brauchte einen kräftigen Schluck Glühwein. »Und er würde dich sofort wieder
nehmen!«, verkündete Mutter feierlich. - Oh Gott, Aurelius! Katrin hatte in
einer spontanen Schreckensvision das golden gerahmte Hochzeitsfoto vor Augen,
das auf dem TV-Gerät der Schulmeister-Hofmeisters platziert sein würde, wo
jetzt das holzumrandete Firmlingsfoto von Katrin stand, vor dem Papa und Mama
vermutlich tägliche Bittgebete sprachen.
Wenn er
ihr ein bisschen mehr egal gewesen wäre, hätte sie ihn ihren Eltern zuliebe
geheiratet und sich erst nach deren Tod wieder von ihm getrennt. Sie musste ja
nicht mit ihm ins Bett gehen. Und Kinder hätten sie schon von irgendwoher
adoptiert. Aber Aurelius war ihr eben nicht egal. Wenn sie an ihn dachte,
juckten ihre Nieren und wölbten sich die Zehennägel. Sie konnte sich nicht mehr
vorstellen, auch nur eine Nacht neben ihm im gemeinsamen Bett zu verbringen,
Nachthemd an Pyjama. Da lieber einen Monat neben Kurt - und zwischen ihnen die
speicheltriefende wiehernde Leberkäsesemmel.
»Mama, ich
liebe ihn nicht, überhaupt nicht«, sagte Katrin. Die Mutter biss sich auf die
Lippen und wartete auf bessere Argumente. So erfuhr sie: »Ich liebe einen anderen.«
- Keine taktisch kluge Mitteilung, aber Katrin war danach gewesen. Erstens
klang es gut. Zweitens war Mutter vielleicht so nett und gab es an Aurelius
weiter. Drittens wärmte es in der Kombination mit dem Glühwein ihr Körperinneres.
Außerdem war sie schon ein bisschen betrunken und hatte ihr Nicht-an-Max-Denk-Verbot
vorübergehend außer Kraft gesetzt.
»Einen
anderen?«, fragte Mutter, ein Drittel entsetzt, ein Drittel entzückt, ein
Drittel entrückt. »Doch nicht den mit dem Hund?« Jetzt war er ihr wieder
eingefallen. So wenig sensibel Ernestine Schulmeister-Hofmeister mit den Gefühlen
ihrer Tochter umzugehen verstand - solche Dinge wusste sie gleich. »Was macht
er?«, fragte Mutter. »Einen guten Birnenkuchen«, antwortete Katrin. »Und wann
lernen wir ihn kennen?«, fragte Mutter. »Nach mir!«, erwiderte Katrin. Mutter
lächelte Candisinsauer.
Kurt war
wieder ganz der Alte. Am Morgen schlief er fest. Am Vormittag schlief er
ziemlich fest. Zu Mittag schlief er recht fest. Am Nachmittag schlief er
ziemlich fest. Am Abend schlief er fest. Dazwischen wurde er zweimal Gassi
geschleift und einmal mit der Schnauze voran in die Fressl-Schüssel gesteckt.
Vermutlich war es ihm gelungen, diese Aktivitäten in seine Träume einzubauen,
ohne extra aufzuwachen.
Max hatte
in der Früh ein Schockerlebnis. Ihm war eingefallen, dass er berufstätig war.
Danach konnte er nicht mehr einschlafen. Im Gegenteil: Ihm fiel ein, dass auch
seine Chefs wissen mussten, dass er berufstätig war, und dass sie es in der
Hand hatten, diese Tätigkeit zu beeinflussen, also zu beenden. Kurzum: Die
wöchentliche aktuelle »Max'sche Kreuzworträtselecke« war einen Tag überfällig,
das tägliche Kino- und Theaterprogramm für die Bezirkszeitung konnte an diesem
Tag nicht erschienen sein (da Max es nicht erstellt hatte, und sonst gab es
niemanden, der sich darum kümmerte). Für die Hundekolumne in »Leben auf vier
Pfoten« war der Redaktionsschluss auf Dienstag früh vorverlegt worden; sie
musste also schleunigst abgegeben werden, was eigentlich voraussetzte, dass
sie schon verfasst war.
Und in der
Schreibtischlade stapelten sich die unbearbeiteten Nacktfotos für die
»Rätselinsel«. Einem der Pinups mussten dringend ein paar Zeilen auf den Leib
geschrieben werden. Das wollte Max nun zuallererst machen. Es war die Arbeit
mit der größten Chance auf morgendliche Inbetriebnahme seiner Blutzirkulation.
Er suchte die Frau aus, deren Gesicht dem von Katrin am ähnlichsten war. Dazu
schrieb er einen nachdenklich machenden, beinahe
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