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Glattauer, Daniel

Glattauer, Daniel

Titel: Glattauer, Daniel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Weihnachtshund
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eine
Jahrhunderteinladung platzen. Aber er war ja nicht zum Vergnügen da.
    Bei
solchen Überlegungen flossen die Sekunden bei hoher Pulsfrequenz dahin, und er
vergaß, ganz auf die beiden kampfsportartig ineinander verkeilten Zungen zu
achten. Endlich fand er auch Halt für seine Hände. Auf Brusthöhe in der Nähe
ihrer Schulterblätter gab es warme, muskulös gewölbte Flächen, die er ohne
schlechtes Gewissen massieren konnte. - Da nun sinnliche Ruhe eingekehrt war,
blendete sich die fette Sissi in das Geschehen ein und warf ihm einen
lebertranigen Kussmund zu. Max klopfte dreimal. Paula war enttäuscht. Sie
hätte ihm einen vollen Erfolg mit sich gewünscht.
    Nun blieb
ihm Übung vier nicht erspart: Der Kuss mit gleichzeitigem Blick auf das
projizierte Ganzkörperbild von Lisbeth Willinger. Sieben Sekunden benötigte er,
um von der adretten Lisbeth zu ihrem fetten Ursprung zurückzugelangen. Dann
klopfte er dreimal und brauchte bei geöffneten Fenstern eine längere Pause.
    Übung
fünf: Der Kuss mit gleichzeitigem Blick auf den projizierten Bildausschnitt des
Gesichts von Lisbeth Willinger. Er sah also beim Küssen über Paulas quergestellten
Kopf hinweg direkt auf Sissis Mund an der Wand. - Vierzig Sekunden, dann wollte
Paula nicht mehr. »Was ist los mit dir, geheilt?«, fragte sie nachher.
    Es war
seltsam: Sissis Mund, bei dem nur die Zähne zum Vorschein kamen, beruhigte ihn.
Der Blick darauf nahm dem Trauma den verfaulten Geschmack. Max fühlte sich wie
ein (küssender) Marathonläufer. Er sah sich mit den Augen Dutzende Kreise um
Sissis Lippen ziehen. Er lief dabei nie Gefahr, abzurutschen und hineinzugleiten.
Die ersten Runden kosteten noch die übliche Überwindung und Anstrengung. Doch
von Sekunde zu Sekunde fühlte er sich leichter auf seiner Bahn. Schließlich
trat er mit seinen Augen in eine Art aerobe Mund-Umrundungs-Phase ein. Er verspürte
dabei ein angenehmes Schwindelgefühl, das ihn wie ferngesteuert weitermachen
ließ.
    Gleichzeitig
hatte er sich an Paulas Zunge in seinem Mund gewöhnt. Sie drang ja doch nie
weiter vor als bis zu seinem hinteren Gaumen. Das Glitschige verlor seine üble
Schärfe. Die Gedanken trugen ihn bis zur Mutprobe der »Dreckigen
Totenkopfpiraten« zurück. Er hörte, wie ihn die Kinder anfeuerten: »Bravo-Max-der-Küsser-König-der-Max-der-kann's-der-Max-der-hat's.«
Er rechnete mit heftigen Schüben von Übelkeit und seine größte Angst war es,
dass Paula die drei Klopfgeräusche im Kussrausch überhören könnte. Aber es
passierte nichts, der Magen blieb ruhig. Die Augen zogen unermüdlich ihre
Runden um Sissis Lippen auf der Projektionswand. Max fühlte sich stark genug,
damit über jede volle Distanz zu gehen. Er hätte noch Stunden weiterküssen
können.
    »Gratuliere«,
sagte Paula und rüttelte an seiner Schulter. »Danke«, flüsterte Max erschöpft.
»Dann haben wir's also«, meinte sie und richtete sich auf. »Was?« - »Die Lösung
deines Problems. Du brauchst ein Foto von ihren Lippen. Das trägst du von nun
an immer bei dir. Und das verwendest du bei jedem Kuss!« - Jetzt war sie die
strenge Apothekerin. »Vielleicht war es nur Zufall, nur ein einmaliger Erfolg«,
gab Max zu bedenken. - »Das musst du ausprobieren, mein Guter«, sagte sie,
ging zum Schreibtisch (Meditationstisch) und kam mit einem Stoß Fotos zurück:
Lisbeth Willinger in allen Größen und von allen Seiten, darunter drei herrlich
ausgearbeitete Lippenbilder.
    »Paula,
ich ...« - »Ich weiß, dass das großartig von mir war«, sagte sie. »Wie kann ich
mich revanchieren? Was kann ich dir dafür geben?«, fragte Max. - »Einen Kuss«,
erwiderte Paula. »Muss aber nicht heute sein.«
     
    21.12.
     
    Kurt hatte
zwei Seelen in seiner drahtbehaarten Brust, eine bekannte und eine ungeahnte.
Die eine schlief. Die andere wachte neben Katrin auf. Was war passiert? Lange
Zeit gar nichts. In der Ordination am Vortag: Seele eins. Beim Auftritt von
Doktor Harlich (»Was ist das da am Boden?« - »Ach nichts, nur ein Teppich.« -
»Der ist zu dick, schönes Fräulein, da stolpern unsere Kunden darüber.« -»Ich
werde ihn noch heute austauschen.«): Seele eins.
    Beim
abendlichen Schneespaziergang im Esterhazypark: Seele eins. (Katrin war knapp
davor, die Tierseelsorge anzurufen und ihr mitzuteilen, dass unter der vierten
Gebüschzeile ein fremder Hund mit zugefrorenem Schnauzbart lag, der offenbar
Probleme mit sich hatte. Dann zerrte sie ihn aber doch zu sich nach Hause.)
Daheim, bei Help TV, Doris

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