Glattauer, Daniel
notlügnerischen Akzent. Er war stolz, dass sie sich gerade ihn
zum Verwählen ausgesucht hatte. Er fragte - und das war wirklich mutig und
darüber freute er sich sehr: »Was ich dich eigentlich fragen wollte: Willst du
nicht vor der Arbeit noch zu mir auf einen Kaffee kommen?« - »Ja, gerne.« Ihre
Antwort langte gleichzeitig mit dem Ende seiner Frage ein. »Um acht?« - »Um
acht!« - »Bis dann.« - »Bis gleich.« - »Ich freu mich.« - »Ich mich auch.« -
»Ich mich sehr.« - »Ich mich auch sehr.« - »Also bis dann.« - »Bis gleich.«
Das war
ein verdammt gutes Telefongespräch, dachte Max danach und behielt den Hörer als
Andenken noch eine Weile in der Hand.
Im
Esterhazypark wurde ihr bewusst, dass sie ihm geschrieben hatte, dass sie mit
ihm schlafen wolle. (Und dass es stimmte.) Und dass er geantwortet hatte: »Ich
will es auch.« Und dass sie jetzt auf dem Weg zu ihm war. Und dass er
hoffentlich nicht glaubte, dass sie erwarte, dass ihrer beider Wunsch jetzt
eingelöst werden sollte. Und dass er hoffentlich nichts dergleichen unternahm.
Sie hatte eine halbe Stunde Zeit. Sie wollte ihn nur sehen. Nur »Guten Tag« sagen.
Nur einen Kaffee trinken und ihre Verwirrtheit auf ein erträgliches Maß
reduzieren. Immerhin musste sie noch ein Dutzend Patienten empfangen, bevor sie
dreißig Jahre alt werden durfte.
Im
Stiegenhaus legte sie sich einen groben Verhaltenskatalog für die Türszene
zurecht: Wenn er ihr im Pyjama öffnete, würde sie schreien. Wenn er ihr im
Morgenmantel öffnete, würde sie davonlaufen. Wenn er ihr nackt öffnete, würde
sie schreien und davonlaufen.
Er war
angezogen. Sie fiel ihm um den Hals. Er drückte sie an sich. Sie spürte seine
heiße Wange an ihrer kalten. So standen sie etwa eine halbe Stunde. Dann musste
sie gehen. Nein: So standen sie ein paar Sekunden, die ihr wie eine halbe
Stunde vorkamen. Danach gab es keinen Kaffee. Keiner machte einen. Es gab auch
sonst nichts. Keiner dachte daran. Nichts lenkte sie voneinander ab. Das war
schön.
Sie saßen
auf der Couch. Sie saßen eng nebeneinander. Er hielt ihre Hand. Sie erzählten
einander belanglose Geschichten, wahrscheinlich aus der Kindheit. Es war egal,
was sie sich erzählten. Keiner bemerkte es, und keiner merkte sich ein Wort
davon. Es galt, sich an die Stimme des anderen zu gewöhnen und
Vertraulichkeitspunkte zu sammeln.
Es waren
Geschichten, bei denen man einander in die Augen schauen konnte, bei denen man
einander zunickte, bei denen man ständig lächelte, obwohl es keine lustigen
Geschichten waren. Wenn man verliebt war, erzählte man sich keine lustigen
Geschichten, sondern Geschichten, bei denen man sich und dem anderen die
Möglichkeit gab, Verliebtheit zu leben, ohne dabei schweigen zu müssen. Es
waren Geschichten, bei denen man in die Hände hineinhorchen konnte, die man
einander hielt.
Dazwischen
hätte man einander eigentlich küssen müssen, dachte sie. Es waren Geschichten,
bei denen dies nicht nur gegangen wäre. Es waren Geschichten, die dafür bestimmt
waren. Geschichten, die man an jeder Stelle bequem hätte unterbrechen können.
Geschichten, die man nachher gar nicht mehr hätte fortsetzen müssen. »Worüber
haben wir vorhin geredet?«, hätte einer dann gefragt. Keiner hätte es mehr
gewusst. Dann hätte man einander wieder geküsst. Und dann hätte man nicht mehr
damit aufgehört. So endeten solche Geschichten. Es waren in Worte gefasste Küsse.
»Ich muss
gehen«, sagte Katrin stattdessen und verlor seine Hand. Sie hätte ihn jetzt
doch noch küssen können, aber es war ihr zu riskant. Er hätte zumindest »Wann
sehen wir uns wieder?« fragen müssen. Er hatte dazu bereits den Kopf leicht
schräg gestellt und das Gesicht nach vorgezogener Sehnsucht aussehen lassen.
Aber er fragte nicht. Sie umarmten sich. Das war schön. Ihr war nach »Hast du
heute Abend Zeit?« zumute. Aber da schlich gerade Kurt vorbei. Er war müde.
Er war nicht der Hund, der vor ein paar Tagen neben ihr erwacht war.
»Darf ich
ihn mitnehmen?«, fragte Katrin, um eine interessante Frage zu stellen und aus
tiefem Mitleid mit sich selbst, ohne Kuss und ohne Max und ohne Kaffee gleich
einem Rudel sehwütiger Augenarztpatienten vor die verkrümmten Linsen gesetzt
zu werden. Sie brauchte plötzlich einen Beschützer und ein Bindeglied. - Max
war überrascht, aber großzügig. Natürlich durfte sie Kurt haben. Kurt durfte
sie immer haben. »Mein Hund ist dein Hund«, sagte er und gab ihr statt eines
Kusses auf den
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