Glattauer, Daniel
Lippen einer
Frau abgebildet.
Vermutlich
war es seine Exfreundin. (Wenn nicht gar seine Mutter.) Das war nicht normal.
Oder war das normal? Sie dankte Gott, nein, nicht Gott, sie dankte sich selbst,
dass sie so viel Körperbeherrschung gehabt hatte, sich noch nicht vollständig
ausgezogen zu haben.
Sie hatten
schon auf seiner orangeroten rauledernen Sitzgarnitur gelegen. Sie waren im
Küssen umgekippt. Er küsste nicht gut, er küsste wie ein Gymnasiast, der zum
ersten Mal eine andere Zunge berührte. Aber das störte sie nicht. Er war gierig
und darin war er selbstsicher. Das riss sie mit. Das riss sie nieder. Er wollte
sie haben. Und sie war dabei, sich hinzugeben. Sie wollte es so sehr wie schon
seit Jahren nicht. Hatte sie es überhaupt schon so sehr gewollt? »Haben« und
»hingeben«, wie das schon klang! Aber es kam ja ohnehin nicht dazu.
Er hatte
den linken Arm hinter dem Rücken eingeklemmt. Sie drehte seinen Körper zur
Seite, um den Arm zu befreien. Er wehrte sich. Er drückte dagegen. Das war
nicht normal. Das ergab keinen sexuellen Sinn. Man brauchte doch seine Hände.
Oder brauchte man sie nicht?
Es kam ihr
vor, als hüte er ein Geheimnis. Als hielt er etwas in der Hand. Als verstecke
er etwas vor ihr. Und sie hatte Recht. Irgendwann ließ er es fallen: ein Foto.
Sie hob es auf, sah es an: Lippen. Pfui! Nein, sie konnte ihn nicht fragen, was
das Bild hier zu suchen hatte, was er damit vorhatte. Sie hatte Angst vor einer
Erklärung, vor einem perversen Lippen-Bekenntnis, noch mehr Angst vor einer
faulen Ausrede, einem fluchtartigen Ausbruch der Banalität. »Es ist ganz anders,
als du denkst«, flüsterte er. Aber sie dachte weder so noch anders. Er hatte
ein Foto mit Lippen in der Hand. Da gab es nichts zu denken. Das war krank.
Beim
Zuknöpfen ihrer Bluse kam sie sich gedemütigt vor. Gleichzeitig spürte sie,
dass sie den Mann, der mit dem gesenkten Blick eines schlimmen Buben auf der
Couch saß, nicht aufgeben konnte. Sie erwischte sich dabei, etwas zu suchen,
das ihr die notwendige Trennung erträglich machte: einen Teil von ihm, ein
Bindeglied, ein Mittelding. Sie suchte nicht lange. Er lag unter seinem Sessel
und schlief. Sie fragte keinen von beiden. Sie sagte: »Komm, Kurt!« Und er
gehorchte nur deshalb nicht sofort, weil er noch nicht aufgewacht war. Aber
danach ging er widerstandslos mit.
»Ich
glaube, es ist besser so«, sagte sie zu Max beim Abschied. Es ging daraus
nicht hervor, was besser so war. Sie wusste es selbst nicht. Aber sie hatte
sehr viele Filme gesehen, die ähnlich schlecht ausgingen. Sie hatte stets die
Tapferkeit der Menschen bewundert, die in beschissenen Abschluss-Situationen
»Ich glaube, es ist besser so« sagen konnten. Sie war stolz auf sich, die
Wohnung mit Würde (und Hund) zu verlassen. Der Stolz zerfiel beim Haustor.
Dahinter ging er in gefrierenden Nieselregen über.
Max war
nicht traurig. Er dachte nur: »Schade.« Vielleicht sprach er es sogar aus. Es
war ein knappes, achselzuckendes »Schade«. Er dachte auch: »Pech.« Das war noch
knapper. Es bewies ihm, dass man Schicksalsschläge, welcher Härte auch immer,
so locker hinnehmen konnte, wie man wollte. Natürlich hätte er sich jetzt auch
den Korkenzieher in den Bauch drehen und ein paar Darmschlingen herausziehen
können. Damit wäre er dem Anlass mindestens genauso gerecht geworden wie mit
»Schade« oder »Pech«. Denn wenn er vor einigen Stunden gefragt worden wäre, was
das Schlimmste sei, das ihm mit Katrin passieren konnte, so hätte er
geantwortet: »Ich küsse sie und sie entdeckt dabei das Foto.« - Das war
passiert. Schade. Pech.
Das war
also das Ende der Geschichte. Er saß auf der Couch und wartete, bis die
restlichen beiden Tage bis zu seiner Abreise vergingen, eine Abreise, die ihm
keine Freude mehr bereitete. Er hatte keine Lust auf einen Tauchurlaub. Er
hatte allerdings auch keine Lust auf keinen Tauchurlaub. Er hatte
ausschließlich Lust auf Katrin. Doch die hatte er soeben verloren. Schade. Eine
andere Frau interessierte ihn nicht. Pech. Er musste jetzt einsam alt werden,
ohne Lust auf Tauchen oder sonst irgendwas. Schade. Pech. Er war zu arm, um
sich leidzutun. Er hatte nicht einmal mehr seinen Hund. (Und er würde nie mehr
wagen, ihn zurückzuverlangen. Er würde überhaupt nichts mehr wagen, was Katrin
betraf.) Wenn er jetzt sagte, dass ihm Kurt fehlte, hätte er es selbst nicht
geglaubt. Aber es stimmte.
Kurt war
ein Zyniker. Er hatte seine wiehernde Semmel
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