Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
geholfen hast.«
»Ich hätte dir lieber mit einem eindeutigen Befund gedient. Aber egal, wie ich es drehe und wende, ich komme immer wieder zu demselben Schluss: dass es ein unglücklicher Unfall war.«
»Trotz der vielen Motive? Jeder hier scheint eins zu haben. Mignon, Freddie McGhie, Nick Fairclough, Kaveh Mehran. Weiß der Himmel, wer sonst noch.«
»Ja, trotzdem«, sagte St. James.
»Und nicht das perfekte Verbrechen?«
St. James betrachtete die Hainbuchenhecke vor dem Fenster, die in prächtigen Herbstfarben erstrahlte, während er über Lynleys Frage nachdachte. Sie hatten sich zum Kaffee in der Nähe von Newby Bridge in einem etwas heruntergekommenen viktorianischen Hotel getroffen. Helen hätte begeistert ausgerufen Wie wunderbar dekadent, Tommy , um die hässlichen Teppiche, die Staubschicht auf den Hirschgeweihen an den Wänden und die durchgesessenen Sofas und Sessel zu entschuldigen. Einen Moment lang fehlte sie Lynley so sehr, dass ihm fast der Atem stockte. Er atmete tief durch, wie er es gelernt hatte. Alles geht vorbei, dachte er. Auch das.
St. James wandte sich wieder vom Fenster ab. »Natürlich hat es früher einmal perfekte Verbrechen gegeben. Aber heutzutage ist es nahezu unmöglich, ein perfektes Verbrechen zu begehen. Die Forensik ist zu weit fortgeschritten, Tommy. Heute gibt es Möglichkeiten zur Spurensicherung, die noch vor fünf Jahren absolut undenkbar waren. In der heutigen Zeit wäre ein Verbrechen vielleicht dann perfekt, wenn niemand auf die Idee käme, dass überhaupt ein Verbrechen begangen wurde.«
»Aber trifft nicht genau das in diesem Fall zu?«
»Nicht, nachdem bereits eine polizeiliche Untersuchung durchgeführt wurde. Nicht, nachdem Bernard Fairclough extra nach London gefahren ist, um dich zu bitten, dir den Fall noch einmal anzusehen. Das perfekte Verbrechen der Gegenwart ist eines, bei dem niemand auch nur auf die Idee käme, dass es sich um ein solches handelt. Es gibt keine polizeilichen Ermittlungen, der Hausarzt stellt den Totenschein aus, die Leiche wird innerhalb von achtundvierzig Stunden im Krematorium verbrannt und fertig. In unserem Fall jedoch wurde jede Spur überprüft, ohne dass etwas darauf hindeuten würde, dass Ian Cresswells Tod etwas anderes als ein Unfall war.«
»Und wenn nicht Ian, sondern Valerie das Opfer sein sollte?«
»Das würde am Ergebnis nichts ändern.« St. James trank einen Schluck Kaffee. »Wenn das ein Mordanschlag war, Tommy, und wenn eigentlich Valerie aus dem Weg geschafft werden sollte, dann hätte es dazu viel einfachere Möglichkeiten gegeben, das musst du doch zugeben. Alle wussten, dass nicht nur Valerie, sondern auch Ian regelmäßig im Bootshaus war. Warum riskieren, dass er ums Leben kommt, wenn eigentlich sie sterben soll? Und wo ist das Motiv? Und selbst wenn es ein Motiv gibt, wirst du es mit Hilfe forensischer Untersuchungen auch nicht herausfinden.«
»Also haben wir eigentlich gar keinen Fall.«
»So wie ich die Sache sehe, nein.« St. James lächelte bedauernd. »Und deswegen sage ich dir, was ich – wenn auch ohne Erfolg – schon zu Deborah gesagt habe: Es ist Zeit, nach London zurückzukehren.«
»Und was ist mit einer Verbrechensabsicht?«
»Was ist das?«
»Man wünscht einem anderen den Tod. Man hofft , dass er stirbt. Irgendwann plant man sogar einen Mord. Aber ehe man den Plan in die Tat umsetzen kann, kommt einem ein Unfall zuvor. Das vorgesehene Opfer stirbt. Könnten wir es mit so etwas zu tun haben?«
»Natürlich. Aber selbst wenn – man kann in diesem Fall von keiner Schuld reden, und niemand verhält sich so, als würde er sich schuldig fühlen.«
Lynley nickte nachdenklich. »Trotzdem …«
»Was?«
»Ich werde das Gefühl nicht los …« Lynleys Handy klingelte. Er warf einen Blick aufs Display und sagte zu St. James: »Havers.«
»Vielleicht hat sie ja Neuigkeiten.«
»Ich hoffe es.« Lynley nahm das Gespräch an und sagte: »Erzählen Sie mir etwas Neues, Sergeant. Ich bin dankbar für alles.«
CHALK FARM – LONDON
Barbara hatte Lynley von zu Hause aus angerufen. Lange vor dem Morgengrauen war sie noch einmal in den Yard gefahren, um dort in der umfangreichen Datenbank zu recherchieren, und so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückgekehrt, um nur ja nicht ihrer Chefin über den Weg zu laufen. Sie hatte schon reichlich Kaffee intus, und inzwischen war sie so aufgeputscht von all dem Koffein, dass sie wahrscheinlich tagelang keinen Schlaf finden würde. Außerdem
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