Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
blutet! , las Manette von seinen Lippen ab. Und: Tim, mein Junge! Tim, hörst du mich! , während er die Strumpfhose aufknotete, die das Nachthemd über Tims Kopf hielt.
Tim zuckte zusammen und wehrte sich. Freddie redete beruhigend auf ihn ein, und schließlich gelang es ihm, das Nachthemd herunterzuziehen und den Körper des Jungen damit zu bedecken. An Tims Augen und an seinem Gesichtsausdruck erkannte Manette sofort, dass er unter Drogen stand, und dafür war sie dem Himmel dankbar, denn es bedeutete vielleicht, dass er sich nicht an das erinnern würde, was ihm hier widerfahren war.
Ruf die Polizei an! , schrie Freddie.
Aber das brauchte sie nicht, denn in dem Moment verstummte die Alarmanlage, und sie hörte eine Stimme im Vorraum.
»Verdammter Schlamassel«, sagte jemand.
Wie wahr, dachte sie.
MORECAMBE BAY – CUMBRIA
Was man tun musste, um im Treibsand zu überleben, so hatte ihr Nicky erklärt, widersprach jedem Instinkt. Sobald man hineingerät, erstarrt man intuitiv, weil es den Anschein hat, als würde man, je mehr man sich wehrt, umso schneller darin versinken. Aber du musst dir ein paar wichtige Dinge merken, Darling. Erstens kann man nicht wissen, wie tief der Sand ist. Du steckst nur in einer Mulde, und auch wenn es welche gibt, die ein Pferd oder einen Traktor oder sogar einen kompletten Bus verschlucken können, sind die meisten ganz seicht, und man versinkt nur knietief oder höchstens bis zu den Hüften darin. Trotzdem darfst du nicht einmal bis an die Hüften und erst recht nicht bis zur Brust im Sand versinken, denn wegen der Sogkraft ist es unmöglich, dich da rauszuziehen, wenn die Retter eintreffen. Dann kommst du nur noch mit Hilfe von Wasser wieder da raus, entweder durch Wasser, das mit Hilfe eines Feuerwehrschlauchs in den Sand gepumpt wird, oder mit Hilfe der Flut, die den Sand wegspült. Du musst also schnell handeln, wenn du in Treibsand gerätst. Wenn du Glück hast, ist er nicht tief, und du schaffst es, darüber wegzulaufen oder umzukehren, ehe er deine Schuhe ansaugt und nicht mehr freigibt. Wenn das nicht geht, musst du dich hinlegen. Du wirst sofort merken, dass du nicht tiefer einsinkst. Und dann kannst du dich von der Stelle wegrollen.
Aber sosehr ihr Nicky, der in diesem seltsamen Teil der Welt aufgewachsen war, das alles ans Herz gelegt hatte, die Vorstellung erschien Alatea wie der reine Wahnsinn. Sie steckte bereits bis zu den Oberschenkeln im Sand, an schnelles Handeln war also nicht mehr zu denken. Sie musste sich hinlegen. Aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden. »Du musst es tun, du musst«, sagte sie sich, aber sie fürchtete nur, dass der Sand ihren Körper verschlingen, ihr in Ohren und Nase dringen würde.
Sie hätte so gern gebetet, aber ihr Verstand brachte keine Worte zustande, mit denen sie hätte ein Wunder erbitten können. Stattdessen tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, und das Eindrücklichste war eins des dreizehnjährigen Santiago Vasquez del Torres, der von zu Hause weggelaufen und nur bis zur nächsten Stadt gekommen war. In einem Kleid von Elena, zurechtgemacht mit Schminkzeug von Elena, mit einem Tuch über dem Kopf, das sein Haar bedeckte, Haar, das zu kurz war für ein Mädchen und zu lang für einen Jungen, hatte er in der Kirche Zuflucht gesucht. In der Tasche, die er bei sich trug, befanden sich ein bisschen Kleingeld, ein paar Kleider zum Wechseln und drei Lippenstifte.
Als der Priester sie entdeckt hatte, hatte er sie Tochter genannt und gefragt, ob sie gekommen sei, um zu beichten. Eine Beichte schien der richtige Weg zu sein – »Geh, Santiago«, hatte Elena gesagt, »geh den Weg, den Gott dir zeigt.« –, und Santiago Vasquez del Torres hatte gebeichtet. Keine Sünden, sondern den Wunsch nach Hilfe, denn wenn er nicht sein dürfe, was er sein müsse, werde er seinem Leben ein Ende setzen.
Der Priester hatte zugehört. Er hatte von der schweren Sünde der Verzweiflung gesprochen. Er hatte gesagt, Gott mache keine Fehler. Und dann hatte er gesagt: »Komm mit mir, Kind«, und sie waren zusammen ins Pfarrhaus gegangen, wo der Priester ihm die Absolution erteilte und ihm eine warme Mahlzeit aus Kartoffeln und Fleisch vorsetzte, die er ganz langsam gegessen hatte, während er sich unter den misstrauischen Blicken der Haushälterin des Priesters in der einfachen Küche umgesehen hatte. Nach dem Essen hatte der Priester ihn in ein Wohnzimmer geführt, wo er sich ausruhen sollte von der langen, beschwerlichen
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