Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
an, als käme es aus der Nähe, was beruhigend war. Sie ging darauf zu.
Ein Traktormotor heulte auf. Zumindest hörte es sich so an. Und zwar direkt hinter ihr. Also musste dort die Küste liegen. Sie wandte sich in die Richtung und rief: »Hallo? Hallo? Ist da jemand?« Aber niemand antwortete. Nur der Traktormotor heulte und stotterte, als müsste er eine schwere Last bewegen.
Dann ertönte eine Hupe. Dort musste also die Straße liegen. Doch eigentlich hatte sie in der Richtung das Meer vermutet, und das bedeutete, dass sie dort das Verderben erwartete. Sie würde über Sandbuckel und durch Pfützen stolpern und irgendwann im Treibsand versinken.
Wieder blieb sie stehen. Sie drehte sich um. Lauschte. Rief. Als Antwort kam der Schrei einer Möwe. Einen Augenblick später wurde die Luft von einem Knall zerrissen, der sich anhörte wie ein Gewehrschuss oder eine Fehlzündung. Dann totale Stille.
Und da begriff Alatea, dass es kein Entrinnen für sie gab. Sie begriff, dass es für sie nie ein Entrinnen gegeben hatte. Vielleicht bestand ja tatsächlich die Möglichkeit, dass sie doch noch aus der Bucht gerettet wurde. Aber aus ihrem Leben und aus dem Lügengebäude, das sie um sich herum errichtet hatte, konnte sie niemand retten. Es wurde Zeit, dass sie das akzeptierte, sagte sie sich. Ihr Leben war von der Angst bestimmt, entdeckt zu werden, auch wenn sie sich stets an die törichte Hoffnung geklammert hatte, auf Dauer unerkannt bleiben zu können. Doch jetzt war diese Hoffnung endgültig zerstoben, und dieser Wahrheit musste sie ins Auge sehen.
Also gut. Sie würde ihr Schicksal akzeptieren, denn sie hatte es nicht anders verdient. Sie öffnete ihre Reisetasche. Sie fand ihre Handtasche, ihr Portemonnaie, ihr Schminktäschchen, aber nicht ihr Handy. Sie hatte es in der Küche liegen lassen, wo es am Ladegerät hing. Wie benommen starrte sie in ihre Tasche. Sie würde Nicholas nicht mehr die Wahrheit sagen können.
Jetzt konnte sie sich nur noch in das Unvermeidliche fügen. Wie hatte sie je glauben können, dass ihr etwas anderes vergönnt war? Hatte sie nicht jeder Schritt, den sie gegangen war, seit sie vor ihrer Familie davongelaufen war, unaufhaltsam an genau diesen Ort, in genau diese Situation geführt?
Es hatte nie ein Entrinnen für sie gegeben, nur einen Aufschub, das wurde ihr endlich bewusst. Zwar hatte die moderne Chirurgie sie aus ihrem körperlichen Gefängnis erlöst und sie zu einer Fremden in einem fremden Land gemacht, aber niemals würde sie all ihren schrecklichen Erinnerungen entfliehen können.
Das Schlimmste, dachte sie, waren die Boxstunden, die ihr verordnet worden waren, weil ihr Vater der Meinung gewesen war, ihre Brüder könnten nicht ewig die Kämpfe für Santiago Vasquez del Torres ausfechten. Es sei an der Zeit, dass er lerne, sich selbst gegen Rüpel zur Wehr zu setzen. Er hatte stirnrunzelnd und sorgenvoll dreingeblickt, wenn Santiago keine Lust hatte, mit seinen Brüdern Unsinn zu machen, Forts zu bauen und Soldaten zu spielen, sich zu balgen und beim Weitpinkeln mitzumachen. Und seine Mutter hatte entsetzt dreingeblickt, wenn sie Santiago in Mädchenkleidern erwischt hatte, wenn sie gesehen hatte, wie er und seine Kusine mit Puppen spielten.
Die Gesichter von Santiagos Eltern hatten dasselbe ausgedrückt, nämlich die bange Frage: Was haben wir da bloß in die Welt gesetzt? Der Vater, ein Mann, der von seiner Kultur, seiner Religion, seiner Erziehung geprägt war, hatte nur eine Angst: dass sein Sohn homosexuell sein könnte. Die Mutter dagegen hatte sich ängstlich gefragt, wie ihr Santiago in einer Welt zurechtkommen sollte, die ihn nicht verstehen würde.
Damals war Elena María Santiagos Zuflucht gewesen. Ihr hatte er alles erzählt. Dass er in einem Körper lebte, den er nicht als den seinen betrachtete. Er schaue an sich hinunter und sehe, dass es ein männlicher Körper ist, aber er funktioniere nicht wie ein Mann, und er wolle auch nicht, dass er so funktioniere. Er könne es nicht einmal ertragen, seinen eigenen Körper zu berühren, weil es sich so anfühle, als berühre er einen Fremden.
Ich weiß nicht, was das ist, hatte er zu Elena María gesagt. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber ich will diesen Körper nicht, ich kann mit diesem Körper nicht leben, ich muss ihn loswerden, und wenn das nicht geht, dann will ich sterben.
Bei Elena María hatte Santiago sich wohlgefühlt. Während dieser wenigen gemeinsamen Stunden, während der Tagesausflüge in eine
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