Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
Wanderung. Und da er tatsächlich furchtbar erschöpft gewesen war, war er auf dem Sofa eingeschlafen.
Sein Vater hatte ihn geweckt. Mit versteinerter Miene hatte er gesagt »Danke, Pater« und seinen missratenen Sohn am Arm gepackt. »Danke für alles.« Dann hatte er der Kirche oder vielleicht auch dem Priester persönlich eine große Summe gespendet für seinen Verrat und Santiago wieder mit nach Hause genommen.
Um ihn zu kurieren, hatte sein Vater ihn verprügelt. Dann hatte er ihn in ein leeres Zimmer gesperrt, um ihm Zeit zu geben, über die Sünde nachzudenken, die er gegen Gottes Gebote und gegen seine Familie und deren guten Namen verübt hatte. Und erst wenn er gelobe, mit diesen Verrücktheiten aufzuhören, werde er ihn wieder freilassen, hatte der Vater gedroht.
Und so hatte Santiago versucht, ein Mann zu werden. Aber die Bilder von nackten Frauen, die die Brüder sich heimlich anschauten, hatten in ihm nur den Wunsch verstärkt, selbst einen weiblichen Körper zu besitzen.
Er entwickelte sich nicht wie seine Brüder: keine Behaarung an Armen und Beinen, keine Behaarung an der Brust, kein Bartwuchs. Es war offensichtlich, dass etwas mit ihm nicht stimmte, doch für seinen Vater lag die einzige Lösung des Problems darin, ihn abzuhärten. Er schickte ihn zum Boxen, nahm ihn mit auf die Jagd, zum Bergsteigen und Skilaufen, damit er sich zu dem Mann entwickelte, zu dem Gott ihn bestimmt hatte.
Zwei endlose Jahre lang quälte Santiago sich ab. Zwei Jahre lang sparte er jeden Peso. Und mit fünfzehn lief er wieder von zu Hause weg, diesmal für immer. Er fuhr mit dem Zug nach Buenos Aires, wo niemand sein Geheimnis kannte.
Alatea dachte an die Zugfahrt, an das Geräusch der Lokomotive, an die vorbeifliegende Landschaft. Sie erinnerte sich daran, wie sie den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe gelegt hatte. Wie sie die Füße auf ihrem Koffer abgestellt hatte. Wie der Schaffner gekommen war, ihren Fahrschein abgeknipst und gesagt hatte: Gracias, señorita . Und wie sie von da an immer nur eine Señorita gewesen war.
Die Erinnerung war so lebhaft, dass sie beinahe meinte, die Lokomotive wieder zu hören. Das Rumpeln und Kreischen der Räder des Zugs, der sie in die Zukunft entführte, fort von ihrer Vergangenheit.
Als das Wasser kam, begriff sie, dass es die Flut gewesen war, was sie gehört hatte. Und jetzt begriff sie auch, warum vor einer Weile die Sirenen geheult hatten. Das war die Flutwelle, die so schnell kam wie eine Herde galoppierender Pferde. Das bedeutete, dass das Wasser sie aus dem Treibsand befreien würde. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass es Dinge gab, von denen nichts und niemand sie jemals befreien konnte.
Sie war froh, dass sie nicht im Sand ersticken würde, wie sie befürchtet hatte. Und als das Wasser sie traf, wusste sie, dass sie auch nicht ertrinken würde. In solchem Wasser ertrank man nicht. Man legte sich einfach hin und schlief ein.
11. November
ARNSIDE – CUMBRIA
Sie hatten wirklich nichts tun können. Sie hatten es alle gewusst. Und alle hatten sich das Gegenteil vorgemacht. Die Küstenwache war im Nebel hinausgefahren, von Walney Island in Richtung Lancaster Sound. Aber von dort aus war es eine weite Strecke bis in die Morecambe-Bucht und noch weiter bis zum Kent Channel. Alatea hätte irgendwo sein können, auch das hatten sie alle gewusst. Wenn es nur die Flutwelle gewesen wäre, hätte Alatea vielleicht eine geringe Chance gehabt. Aber zusammen mit dem dichten Nebel war die Situation von Anfang an aussichtslos gewesen. Sie fanden Alatea nicht.
Nachdem die Flut hoch genug gestiegen war, hatte auch der RNLI ein Boot hinausgeschickt. Aber schon sehr bald war klar geworden, dass sie nach einer Toten suchten, und da es Unsinn war, für eine Tote Menschenleben zu riskieren, waren die Männer wieder umgekehrt. Nur der Wattführer könne ihnen jetzt noch helfen, hatten sie Lynley bei ihrer Rückkehr erklärt, denn dessen Aufgabe in einer solchen Situation bestand darin einzuschätzen, an welcher Stelle die Leiche wahrscheinlich angespült würde. Er würde ihnen helfen, die Leiche so schnell wie möglich zu finden, denn wenn das nicht geschah, sobald der Nebel sich auflöste, würde sie wahrscheinlich nie gefunden. Das Meer würde sie fortspülen, und der Sand würde sie unter sich begraben. Manches verschlinge die Bucht für immer, und manches gebe sie erst nach hundert Jahren wieder preis. So sei die Bucht nun einmal, erklärte der Wattführer. Wild in ihrer
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