Gleich bist du tot
»Adrian« oder »Brady« passte.
Die Fahrt zurück zum Präsidium nutzte er für eine Zwischenbilanz. Die ermittelten Fakten ergänzten sich gut. Was sie bisher zusammengetragen hatten, reichte bereits für eine solide Anklage, die selbst noch der dümmste Staatsanwalt vor Gericht kaum würde versauen können. Selbst Jim Webster war zuversichtlich, dass die Laboruntersuchungen der an den verschiedenen Tatorten aufgefundenen Stoffe und Fasern am Ende zu übereinstimmenden Ergebnissen führen würden, und vielleicht gab es sogar DNA-Spuren von dem einen oder anderen Bandenmitglied. Das Problem war, dass sie noch niemanden gefasst hatten und offenbar auch nicht kurz davor standen, jemanden zu fassen. Sie hatten noch keinerlei Hinweis auf die wahre Identität der Täter. Die Spuren, denen die verschiedenen CIDs folgten, waren mindestens einige Tage alt, und alle neuen Ansatzpunkte hatten sich als Fehlschläge erwiesen. Der Wilddieb, der die Hotline angerufen hatte, klang glaubwürdig, aber niemand sonst schien einen Volvo in der Gegend gesehen zu haben. Niemand. Er versuchte, sich auf den einen bekannten Fehler der Bande zu konzentrieren: dass sie ein und dieselbe gefälschte berufliche Referenz zweimal benutzt hatten. Wenn die Bande einen Fehler machte, konnte sie auch mehrere machen. Quod esset demonstrandum. Das war eine völlig logische und philosophisch respektable Überlegung. Dazu kam, dass jede einzelne Kreditkarte, die bis jetzt identifiziert worden war, live im Bankensystem beobachtet wurde. Die Bande musste nur eine von ihnen noch einmal benutzen, und die Transaktion und der Ort, an dem sie vorgenommen wurde, würden unmittelbar gemeldet werden. Die meisten ihrer Fälle wurden durch Beharrlichkeit gelöst, dadurch, dass sie dranblieben und sich durch all den Dreck wühlten, den es zu durchwühlen galt. Widerstrebend sah er auf die Uhr. Es war genau zehn Sekunden nach zwölf. Aber die meisten seiner Fälle ließen ihm auch weit mehr Zeit als dieser: Es waren kaum mehr drei Stunden, und die Minuten verstrichen.
Brady betrachtete January Shepherd, die auf dem Rand ihres Betts saß und ins Nichts starrte. Mehr als einmal schon war er versucht gewesen, das Licht oben auszuschalten, sie ein, zwei Stunden in Finsternis zu tauchen und ihr so ein wirkliches Gefühl von Ausgeliefert- und Gefangensein zu vermitteln. Aber er hatte den Gedanken jedes Mal wieder als unprofessionell verworfen, als die Art Genusssucht, die zu unvorhersagbaren Fehlern führte. Er beobachtete sie über den Bildschirm unten im Nebenhaus, da er es nicht ertrug, das vulgäre Spektakel, das sich in Adrians Zimmer abspielte, aus der Nähe mitzubekommen. Adrian hatte ihn bis an den Rand gedrängt. Bis an den Rand, aber nicht darüber hinaus, und das Projekt stand zu nahe vor seiner Vollendung, um sich über Annabels lästige Untreue Gedanken zu machen. Adrian würde sie nach der Auszahlung verlassen, das war die Absprache, und es gab exquisite Möglichkeiten, Annabel später zu bestrafen. Vielleicht tauschte er sogar ihre Rollen und ließ Annabel Maria bedienen, damit sie spürte, wie es sich am anderen Ende der Leine lebte. Es war merkwürdig, wie schnell sie sich an ihre Bühnennamen gewöhnt hatten, dachte er. Er konnte sich Annabel unter ihrem »richtigen« und so viel langweiligeren Namen (Susan) kaum mehr vorstellen. Das Gleiche galt bis zu einem gewissen Grad auch für Maria. Nur was Adrian betraf, konnte er offen gesagt keine Verbesserung im Vergleich zu seinem eigentlichen Namen erkennen. Eher im Gegenteil. Trotzdem, die Namenswechsel waren ohne Frage eine gute Idee gewesen und hatten sie fortwährend an die zentrale Prämisse des Projekts erinnert: dass die Identität ein flüchtiges Wesen war, vergänglich und alles andere als statisch. Die Familie versuchte, einem eine Identität zu verpassen, dann die Schule, die gesamte Ausbildung, und auch später ging es immer so weiter, was für einen Arschleckerjob man auch ergatterte, oder eben nicht, was für einen Status einem das System auch aufdrückte. Aber das war alles nicht nötig, man musste sich nicht so fertigmachen lassen. Am Ende war man der, der man sein wollte. Man hatte es selbst in der Hand.
In gewisser Weise machte ihn Adrians Minirebellion fast stolz. Sie zeigte, dass der Kerl etwas von ihm gelernt hatte. Wenn du etwas willst, nimm es dir. Wenn du wartest, bis dich jemand fragt, wartest du womöglich dein ganzes Leben. Kaltgestellt, unwichtig, nicht am Geschehen
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