Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gleich bist du tot

Titel: Gleich bist du tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain McDowall
Vom Netzwerk:
Schaufenster sah fast noch genauso aus wie das letzte Mal. Das war vor etwa einem Monat gewesen (bei einem anderen flüchtigen Feierabendbesuch). Ein halbes Dutzend Tai-Chi-Figuren posierte in Schattenboxpositionen. Es gab Fächer, Laternen und einen Drachen, der einem riesigen Schmetterling glich. Seitlich zum Eingang hin klebte Rachels Karte im Fenster, auf der sie ihre Feng-Shui-Beratung annoncierte. Die Karte war neu. Kerr sah nach, ob sie ihre alte Handynummer noch hatte, und stellte fest, dass sie offenbar mittlerweile eine eigene Website besaß. In ihrem Leben schien es weiterzugehen, ohne dass ihn das noch etwas anging. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und kämpfte gegen den Impuls an, einen Abstecher in die Thomas Holt Street zu unternehmen, in der sie wohnte. Ein Polizist konnte überall hingehen und fand für gewöhnlich auch eine Rechtfertigung dafür. Aber das verrückte Spiel, das er spielte, folgte seinen eigenen verrückten Regeln. Die Thomas Holt Street lag außerhalb seiner selbst gesetzten Grenzen. Wenn er bis dorthin vordränge, würde er sich wie ein Stalker fühlen, und das ginge ihm gegen die Natur. Was er sich allenfalls von Zeit zu Zeit erlaubte, wenn er ein, zwei Stunden freihatte, war ein kleiner Abstecher nach Wynarth, so wie jetzt. Dann sah er sich ein paar Schaufenster an und trank kurz etwas, wie er es eben getan hatte. Das war unverfänglich. Sollte er ihr dabei begegnen, würde es bloßer Zufall sein, etwas, das sie ihm nicht vorwerfen könnte. Wynarth war nicht groß, und so mussten sie früher oder später einmal beide zur selben Zeit am selben Ort sein. Dann würde sie ihn vielleicht endlich erklären lassen, ihn ausreden lassen. Mehr wollte er nicht. Mit einem Anruf oder einer SMS kam er nicht zu ihr durch, was blieb ihm also? Sonst konnte er sie nur vergessen, und so weit war er noch nicht.
    Glücklicherweise erinnerte er sich plötzlich daran, dass er etwas vergessen hatte, was die Ermittlungen betraf. Er rief Sergeant Ince im Wachraum an: Konnte einer von dessen Leuten überprüfen, wie weit die Nachforschungen zu den Mietwagen gediehen waren? In den Teil der Ermittlungen waren drei verschiedene Einheiten involviert, und Kerr sorgte sich genau wie Jacobson darum, dass dadurch Informationen verloren gingen oder nur verzögert ihr Ziel erreichten. The Fall spielte wieder, als er den Motor anließ: ›Futures and Pasts‹. Aber er hörte nicht mehr lange zu, er musste die Musik ausstellen, als er den Rand des Dorfes erreichte und Richtung Crowby fuhr. Nicht alles, was man mal gemocht hatte, behielt seinen Reiz. Manches hörte man lange nicht an, um dann eines Tages festzustellen, dass es nicht mehr zu einem passte.
     
    January Shepherd zog sich für ihre Auftritte bewusst locker an, heute Abend zum Beispiel Jeans, einen Biker-Gürtel und dazu ein »Day-of-the-Dead«-T-Shirt. Es gab einen wandgroßen Spiegel auf einer Seite des Übungsraums, den Dad im Westflügel des Gebäudes eingerichtet hatte, wenn er auch kaum mehr ein Instrument anrührte. Er hatte einen ganzen Trakt des Anwesens entsprechend eingerichtet, nur für den Fall, dass ihn die Laune eines Tages doch wieder überkommen sollte. Es gab ein Aufnahmestudio, eine vollständige Videoausrüstung, einen kompletten Satz Instrumente und die beste verfügbare Lärmdämmung. Sie sah sich über die Gitarre hinweg im Spiegel an: »El Día de los Muertos« war auf ihrem T-Shirt zu lesen. Ganz so weit war es noch nicht, dachte sie, bis Allerseelen, dem Tag der Toten, war es noch ein ganzer Monat. Dann würden sie in London sein, oder irgendwo auf dem Kontinent. Sie spielte schnell noch einmal die Eröffnungsnummer durch und ein paar Jazzläufe, um die Finger zu üben, aber das war eigentlich nicht nötig: Sie war für heute Abend perfekt vorbereitet, mit genau dem richtigen Maß an fehlender Übung, das sie brauchte, um ausreichend nervöses Adrenalin freizusetzen und so der Musik ihren Drive zu geben. Sie legte die Stratocaster zurück in ihren Kasten und versicherte sich, dass sie einen zweiten Saitensatz dabeihatte. Die Gitarre war ein besonderes Stück: Laut Dad hatte sie einmal BB Kings Cousin gehört. Dad hatte sie ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt, als er endlich kapiert hatte, dass es ihr ernst war mit der Musik und er nichts tun oder sagen konnte, um sie davon abzubringen. Sie holte ihr Handy heraus und rief endlich Nick an. Der Rest der Band hatte sich im »Riverside Hotel« eingemietet. Natürlich hatte Dad alle

Weitere Kostenlose Bücher