Gleich bist du tot
ganze Tour über würde sie zusammen mit der Band reisen, ohne irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen. Warum sollte Perry also heute Abend mitkommen? Und das ausgerechnet nach Wynarth. Was um alles in der Welt sollte da wohl passieren? Nächsten Monat würden sie in London spielen, in München, Paris und Rom. Da passierten Dinge. Sicher, es hatte diese Geschichte mit den entführten Frauen gegeben. Aber so, wie sie ihr Leben lebte, war das für sie nicht von Belang. Was wollte die Bande denn tun? Sie vor zweihundert Leuten von der Bühne holen? Dad hatte daraufhin auf seine typisch sture Weise nur gelächelt: Solange du unter meinem Dach lebst, Jan . . . Das hatte er wirklich so gesagt! Hatte den viktorianischen Familienvater gespielt und die Rolle ganz offenbar so genossen, dass January am Ende nachgeben musste. Es war sowieso leichter, gefahren zu werden, als selbst fahren zu müssen, und Perry würde es sicher nicht schaden, für ein paar Stunden aus dem Haus zu kommen und nicht schon wieder einen weiteren Abend mit seinen Kampfsportvideos zu verbringen, oder womit immer er sich die Zeit vertrieb. Sie rief Nick noch einmal an, als sie sich in den Mercedes setzte, und fragte, wann der Rest der Mannschaft im »Wynarth Arms« eintrudeln werde. Sie sagte, wahrscheinlich kämen sie gleichzeitig an.
19
Kerr war nicht danach, nach Hause zu fahren, im Präsidium wurde er aber auch nicht gebraucht. Da erinnerte er sich plötzlich daran, dass er Anfang der Woche überlegt hatte, seinen Dad mal wieder zu besuchen. Er nahm den kürzesten Weg, wechselte von der Wynarth Road hinüber auf die nördliche Umgehung und war nach zwanzig Minuten bereits da. Tom Kerr wohnte immer noch in Beech Park, in dem ehemaligen gemeindeeigenen Haus, das schon die ganze Familie beherbergt hatte, damals, als seine Frau noch lebte und sein Sohn und seine Tochter noch Kinder waren. Er hatte das Haus so lange nicht gekauft (weil er »der Gemeinschaft ihre Besitztümer nicht stehlen wollte«, wie er es nannte), bis die Stadt sich anschickte, noch mehr von ihrem dahinschmelzenden Häuserbestand an eine private Investitionsgesellschaft zu veräußern. Im letzten Winter hatte er eine leichte Herzattacke erlitten, und obwohl die Ärzte behaupteten, seine Gesundheit habe seitdem gute Fortschritte gemacht, waren Vater und Sohn besorgter, als sie einander eingestehen wollten. Wenigstens schien weder sein Denken noch sein Sprechen in irgendeiner Weise dauerhaft geschädigt. Kerr wusste, dass sein Dad nichts mehr fürchtete, als sein klares Denken zu verlieren, seinen scharfen Intellekt, der ihn sein Leben lang ein Frei- und Querdenker hatte sein lassen.
Kerr parkte den Wagen, klopfte an der Tür und wartete auf die Schritte, die nicht mehr wie früher eilig den Flur herunterkamen. Kürzlich erst hatte Kerr das Haus des alten Mannes etwas sicherer gemacht, hatte neue Schlösser eingebaut, einen Spion und ein paar Sicherheitsketten angebracht. Beech Park war immer noch ein intaktes Viertel, voller anständiger Familien mit hart arbeitenden Eltern, von denen sein Dad einst geglaubt hatte, sie würden die Welt erben und besser machen. Trotzdem musste ein alter Mann, der allein lebte und den Zenit seiner körperlichen Kraft längst überschritten hatte, nicht unnötige Risiken eingehen.
Er folgte seinem Dad in die Küche, wo wie immer eine Kanne heißer Tee vor sich hin dampfte. Kerr schenkte sich eine Tasse ein und füllte auch die Che-Guevara-Tasse seines Dads auf, die Kerr senior vor Jahren bei einer Reise nach Havanna als Teil eines ganzen Sets im dortigen Revolutionsmuseum gekauft und stolz mit nach Hause gebracht hatte. Tom Kerr hieß die Berufswahl seines Sohnes immer noch nicht gut, hatte über die Jahre jedoch mehr oder weniger damit leben gelernt. Allerdings hatte diese Entwicklung einen Rückschlag erfahren: Der »Krieg gegen den Terror« (dem Kerr senior immer das Wörtchen »sogenannt« voranstellte), mit dem eine erhebliche Ausweitung der polizeilichen Befugnisse gerechtfertigt wurde, hatte seinen alten Zorn und die Enttäuschung über seinen Sohn neu aufleben lassen.
»Arbeitest du an dem Fall dieser Videobande?«, fragte Tom Kerr.
Sein Sohn nickte.
»Jacobson hat Angst, dass die Sache außer Kontrolle gerät. Jeder neue Vorfall scheint den vorherigen noch an Grausamkeit zu übertreffen.«
»Ich muss sagen, es überrascht mich, dass ihr sie noch nicht gefasst habt. Diese ganzen Überwachungskameras, und dann schicken euch diese Verbrecher
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