Gleis 4: Roman (German Edition)
Zigarette«, sagte er.
Isabelle rief Véronique, die schon etwas weitergegangen war, und bat sie um eine Zigarette »für den Künstler«, und zeigte ihr das Blatt.
»Oh«, sagte Véronique, »wie schön, das sind ja wir«, und hielt dem Zeichner das Päckchen hin. »Mais attention!« fügte sie hinzu und zeigte auf den Beinstumpf.
»Geil«, sagte der Schüler und grinste.
8
Um die Mittagszeit standen sie in der uringelb gekachelten Bahnhofsunterführung Oerlikon am Treppenaufgang zum Gleis 4 still und wurden sogleich zu einem Hindernis. Hier unten war alles in Bewegung, und zwar in einer Hast, als ob alle noch in letzter Minute einen lebensrettenden Zug erreichen wollten. Ein Mann mit einem Sandwich in der Hand stieß Isabelle mit seiner Laptoptasche an, als er um sie herumbog und die Treppe hinaufeilte, indem er zwei Stufen auf einmal nahm.
Isabelle erzählte Véronique, wie sie hier mit ihrem schweren Koffer angehalten und die Treppe hochgeschaut habe und wie dann auf einmal Martin aufgetaucht sei.
Woher er denn gekommen sei, fragte Véronique.
Das wusste Isabelle nicht mehr genau. »Er war einfach plötzlich neben mir, hier, da wo Sie jetzt stehen.«
Dann gingen sie zusammen die Treppe hinauf, und als sie oben ankamen, musste sich Isabelle zusammennehmen, damit sie den Hergang erzählen konnte.
Als Véronique hörte, dass man den toten Martin mit einem weißen Zelt geschützt hatte, begann sie haltlos zu weinen.
Isabelle nahm sie sacht am Arm, führte sie von der Stelle weg zu einem der metallenen Wartebänke auf dem Bahnsteig, und zusammen setzten sie sich. Nach einer Weile schneuzte sich Véronique und sagte dann, Martin habe vor vier Jahren einen Herzinfarkt gehabt, habe seither immer wieder mit Herzrhythmusstörungen gekämpft, gegen die er auch ein Medikament eingenommen habe, aber bei seinen Sachen im Hotel habe dieses gefehlt, vielleicht habe er es in der Eile des Aufbruchs vergessen. Und natürlich sei ein Interkontinentalflug mit der Zeitverschiebung eine Anstrengung, und der Koffer sei wohl das kleine bisschen zu viel gewesen, das er sich zugemutet habe.
Aber mitten im Leben sei er gestorben, das sei immerhin besser als an einem Sauerstoffschlauch mit Morphiumspritzen, bloß ein bisschen warten hätte er schon noch gekonnt. Und, sagte sie mit einem Blick zu Isabelle, dass er als Letztes sie gesehen habe, und nicht irgendeinen Bahnbeamten, sei für ihn bestimmt ein schöner Abschied gewesen, denn er habe die Frauen geliebt, il aimait les femmes.
»Excusez«, sagte sie dann, zog ihr Zigarettenpäckchen hervor und zündete sich eine Zigarette an. Schweigend saßen sie da, bis Véronique fertig geraucht hatte und den Stummel in den Sandbehälter eines Abfallkübels warf.
Wie gut, sagte sie dann, dass Isabelle fachkundig sei und sofort Erste Hilfe habe leisten können, so müsse man sich nicht sagen, man habe vielleicht eine mögliche Rettung verpasst.
Auch dass er ihr eine Bitte anvertrauen wollte, könne sie gut verstehen, jetzt, wo sie Isabelle ein bisschen kennengelernt habe. Sie sei eigentlich sicher, dass er sie gebeten hätte, sie, Véronique, zu benachrichtigen.
Nein, dachte Isabelle, das war es nicht. Es war etwas so Dringliches, fast Flehentliches in seinem Blick gewesen … Sie war auf einmal sicher, dass es mit seinem schweizerischen Leben zu tun hatte, und nicht mit dem kanadischen.
»Sie kannten sich 20 Jahre?« fragte Isabelle.
Véronique nickte.
»Und er war nie in der Schweiz in dieser Zeit?«
Véronique schüttelte den Kopf. Sein Verhältnis zur Schweiz sei, wie gesagt, nicht gut gewesen.
»Aber Sie wollten doch einmal zusammen hinfahren?«
»Ich schon, aber er nicht.«
»Und als er zu dieser Beerdigung aufbrach, wollten Sie da nicht mit?«
Das sei viel zu schnell gegangen, sie sei am Samstag von der monatlichen Teamsitzung nach Hause gekommen, da sei er schon mit gepacktem Koffer bereitgestanden und habe ihr gesagt, er fliege nach Zürich. Völlig überrumpelt sei sie gewesen, der Anruf seiner Tante war in der Nacht gekommen, und er hatte dann am Vormittag einen Flug gebucht, als sie schon weg war, nur für sich natürlich. Im Übrigen sei sie Lehrerin und hätte nicht von einem Tag auf den nächsten den Unterricht absagen können, bloß weil die Pflegemutter ihres Mannes gestorben sei. Damit das geht, muss schon der Mann selbst sterben, fügte sie mit einem bitteren Lächeln hinzu.
Für wann sie denn ihren Rückflug gebucht habe, fragte Isabelle.
»Für nächsten
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